Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

752 Elftes Buch. Besitznngen des Deutschen Reiches. 
§ 8 des Gesetzes vom 25. Juni 1873 giebt dem Kaiser ein Nothver- 
ordnungsrecht, ein Recht der provisorischen Gesetzgebung. § 8, Abf. 1 schreibt näm- 
lich vor: „Auch nach Einführung der Verfassung und bis zu anderweiter gesetzlicher 
Regelung kann der Kaiser unter Zustimmung des Bundesrathes, während der 
Reichstag nicht versammelt ist, Verordnungen mit gesetzlicher Kraft erlassen. Dieselben 
dürfen nichts bestimmen, was der Verfassung oder den in Elsaß-Lothringen geltenden 
Reichsgesetzen zuwider ist, und sich nicht auf solche Angelegenheiten beziehen, in welchen 
nach § 3 Absatz 2 des die Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem Deutschen Reiche 
betreffenden Gesetzes vom 9. Juni 1871 die Zustimmung des Reichstages erforder- 
lich ist.“ Zweifellos ist, daß ein solches provisorisches Gesetz nichts anordnen kann, 
was der Reichsverfassung widerspricht, also z. B. nicht das gemeinsame Indigenat 
aufheben, Elsaß-Lothringen ganz oder theilweise aus der Zolllinie ausschließen, die 
Wahlfähigkeit ändern oder einschränken kann. Ebenso ist es zweifellos, daß solche 
Reichsgesetze, welche in Elsaß-Lothringen gelten, z. B. über die Salz= und Zucker- 
steuer, das Reichstagswahlgesetz, Handelsgesetzbuch, Wechselordnung, Jefuitengesetz, 
nicht durch ein provisorisches Gesetz aufgehoben oder verändert werden können 7. 
Fraglich ist dagegen, ob ein nur in elsaß-lothringischen Angelegenheiten, nicht auf 
Grund Art. 4 der Reichsverfassung, sondern auf Grund § 3, Abs. 2 des Ver- 
einigungsgesetzes erlassenes Gesetz durch provisorisches Gesetz geändert werden kann . 
Dies ist zu bejahen, weil im Sprachgebrauche der Reichsgesetze die auf Grund § 3, 
Abs. 2 des Vereinigungsgesetzes erlassenen Gesetze, da sie ihre Geltung nur in 
Elsaß-Lothringen und nicht im ganzen Reiche haben, nicht als Reichsgesetze, sondern 
als Landesgesetze bezeichnet werden, da ferner für ein solches kaiserliches Noth- 
verordnungsrecht kein Platz denkbar wäre, weil in irgend eine gesetzliche Vorschrift 
fast jede Rothverordnung eingreifen muß". Hierfür sprechen auch die Motive“, 
wenn sie ausführen, daß die Nothverordnungen nur im Bereiche der Landes- 
gesetzgebung und innerhalb dieses Bereiches nur unter Wahrung der im Wege 
der Reichsgesetzgebung erlassenen Vorschriften gestattet find. Die Nothverordnung soll 
also gerade soweit zulässig sein wie die sog. Landesgesetzgebung, d. i. die 
Gesetzgebung im Sinne des § 3 des Vereinigungsgesetzes; fie kann also Acte dieser 
Gesetzgebung ändern, nur kann sie nicht gegen Gesetze verstoßen, welche die Wirkung 
des Art. 2 der Reichsverfassung haben, im engeren Sinne und im gesetzlichen 
Sprachgebrauche Reichsgesetze find. 
„Auf Grund dieser Ermächtigung erlassene Verordnungen“ (so fährt § 8 fort) „find 
dem Reichstage bei dessen nächstem Zusammentritt zur Genehmigung vorzulegen. 
Sie treten außer Kraft, sobald die Genehmigung versagt wird.“ Nach der von 
Art. 68 der preußischen Verfassungsurkunde abweichenden Fassung: „treten außer 
Kraft“" statt: „find außer Kraft zu setzen“ ist zu schließen, daß, sobald der Reichstag 
beschlossen hat, seine Zustimmung zu versagen, also nicht erst, wenn die Außer- 
kraftsetzung bekannt gemacht ist, die Nothverordnung für Jedermann ihre verbind- 
liche Kraft verloren hat. Versagt der Reichstag seine Genehmigung, so wirkt 
dieser Beschluß ex nunc, nicht ex tunc, d. h. die Verordnung gilt und ist als 
gültig anzusehen bis zu diesem Beschlusse. Wenn also Strafen in einer Noth= 
verordnung angedroht find, so find alle Strafen auszusprechen und zu vollstrecken, 
welche wegen aller Zuwiderhandlungen gegen die Verordnung vor dem Reichstags- 
beschlusse begangen find'. Wird einer auf Grund des 8 erlassenen Noth- 
verordnung die Zustimmung des Reichstages ertheilt, so liegt ein Landesgesetz für 
Elsaß Cothringen vor, das nur wie jedes andere Landesgesetz wieder aufgehoben 
werden kann 5. 
  
1 Das find Anleihen und Garantien zu 4 ## auch Arndt, Komm. zu Art. 63 der 
Lasten des ganzen Reiches. preuß. Verfassung, 4. Aufl., und im Archiv für 
* S. auch § 7 des Gesetzes vom 25. Juni öffentl. Recht 1889, S. 438f. 
1873. 5 Drucks. d. Reichstages 1873, Bd. III, Nr. 177. 
2 Laband, I, S. 735, Leoni, Das öffent- " Eheue Leoni, I, S. 164. 
liche Recht des Reichslandes Elsaß-Lothringen, 1, 7 Ebenso Laband, 1, S. 736. 
S. 164, bejaht dies. #*s Vgl. auch Laband, I, S. 737.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.