§ 15. Gebiet des Deutschen Reiches. 71
können preußischen Behörden übertragen werden. Dieser Vertrag kann von beiden
Theilen mit zweijähriger Frist gekündigt werden.
Nicht als „Bundesgebiet“ im Sinne des Artikels 1 der Reichsverfassung
gelten die sogenannten Schutzgebiete. Diese find im Sinne des § 21 des Ge-
jetzes über den Erwerb und Verlust der Staats= und Bundesangehörigkeit als
Inland anzusehen (s. oben § 14). Die Eingeborenen in den Schutzgebieten sind
dem Reiche unterthan, aber nicht Reichsangehörige im Sinne des Artikels 3 der
Reichsverfassung (s. weiter unten).
Zum Bundesgebiet gehört noch der Meeressaum der in Artikel 1 auf-
geführten Staaten bis zur Entfernung von drei Seemeilen, gerechnet von der
Küste, d. i. vom niedrigsten Wasserstand der Ebbe ab (Zorn, Staatsrecht, 1,
S. 112, Perels, Internationales Seerecht, S. 257, Heffter-Geffscken, S. 164).
Ferner gehören zum Bundesgebiet die Haffs und Flußmündungen,
ebenso Meeresbuchten bis zu zehn Seemeilen Oeffnung (Zorn, Staatsrecht, I,
S. 107, Perels, Internationales Seerecht, S. 31, 38).
Bei schiffbaren Grenzflüssen entscheidet der Thalweg, d. i. die Fahrstraße
stromabwärts, bei nicht schiffbaren Flüssen ist die Mitte des Flusses als Grenze
anzusehen (Zorn, Staatsrecht, I. S. 103, Wiener Congreßacte Art. 4 und 95,
Heffter-Gefscken, S. 149, Bluntschli, Völkerrecht, S. 180).
Bei Gebirgsrücken bildet die Wasserscheide, bei einzelnen Bergen die höchste
Spitze die Grenze (Bluntschli, Völkerrecht, S. 180, Zorn, Staatsrecht, 1,
S. 108), während bei Grenzseen die Mittellinie die Grenze bildet.
Rückfichtlich des Bodenfsees besteht eine viel erörterte Streitfa.ge, ob er im
gemeinschaftlichen Eigenthum der Uferstaaten steht, oder ob das Staatsgebiet durch
die Mittellinie des Sees begrenzt wird. Ersteres nehmen u. A. Seydel, Bayer.
Staatsrecht, I, S. 631, und Sarwey, Mürttembergisches Staatsrecht, I. S. 25,
letzteres besonders v. Martitz in Hirth's Annalen 1885, S. 287 ff., an. Gewiß
ist, daß, soweit der Bodensee den Staaten Baden, Württemberg und Bayern ge-
hört, er zum Deutschen Reiche gehört und innerhalb des „Bundesgebietes“ liegt.
An den Begriff des Bundesgebietes knüpfen sich mehrere Streitfragen an, deren
Beantwortung aus der Erwägung folgt, daß, soweit die Zuständigkeit des Reiches
oder mit anderen Worten die Gebietshoheit (Souveränetät) des Reiches nicht aus-
drücklich begründet, beziehungsweise die Verfügungsgewalt (Gebietshoheit) der
Einzelstaaten nicht ausdrücklich beschränkt ist, nach wie vor Errichtung des Deutschen
Reiches die Einzelstaaten in ihrer Gebietshoheit unbeschränkt geblieben sfind und das
Reich keine Hoheit erworben hat.
Bei Errichtung des Deutschen Reiches ist zwar das ganze Gebiet jedes Einzel-
staates, das ihm damals gehörte, Bundesgebiet gewesen. Damit ist aber kein
Princip, wie Laband, Staatsrecht, I. S. 170, annimmt, ausgesprochen worden.
Vielmehr steht reichsrechtlich nichts im Wege, daß ein Staat außerhalb des
Deutschen Reiches Erwerbungen macht. Die Reichsverfassung vom Jahre 1849 in
§ 4 wie Artikel 55 der preußischen Verfassungsurkunde enthalten zwar die Vor-
schrift, daß ein deutscher Fürst (bezw. der König von Preußen) nicht zugleich
Herrscher fremder Reiche sein kann. Man hat auch im verfassungberathenden
norddeutschen Reichstage lam 18. März 1867) einen solchen Fall als möglich hin-
gestellt (Sten. Ber. S. 228). Indessen war man nicht so ängstlich, um die in
den vorbeschriebenen Verfassungen enthaltene Vorschrift in die Bundesverfassung
aufzunehmen. Die Personalunion zwischen einem deutschen und einem außer-
deutschen Staate, wie der Erwerb außerdeutschen Gebietes durch einen Bundesstaat,
auch ohne Zustimmung des Deutschen Reiches find daher durch die Reichsverfassung
nicht verboten (ebenso Arndt, Commentar zur Reichsverfassung, S. 68, Laband,
Keichsstaatsrecht, IL, S. 174, Zorn, Reichsstaatsrecht, I, S. 92).
Zweifellos ist, daß Erwerbungen, welche ein Bundesstaat macht, nur dadurch
in das „Bundesgebiet“ gezogen werden, daß das Reich sie durch ein den Artikel 1
der Reichsverfassung änderndes Gesetz aufnimmt (ebenso Arndt, Commentar,
S. 68, Laband, 1, S. 171, Zorn, I, S. 102, v. Sarwey, Württembergisches
Staatsrecht, I. S. 32 ff.).