72 Zweites Buch. Angehörige und Gebiet des Deuntschen Reiches.
Nicht minder zweifellos ist, daß die Abtretung von Bundesgebiet ebenfalls
nur durch ein Gesetz der bezeichneten Art statthaft ist. Ein solches Gesetz ist z. B.
nöthig, wenn ein Gebietsaustausch zwischen einem deutschen und einem außer-
deutschen Staate erfolgen soll. Es ist nicht gerade ein Gesetz in der Form des
Artikels 5 der Reichsversassung nothwendig; in der Praxis hielt man es vielfach
und mit Recht als genügend, wenn ein solcher Gebietsaustausch in der Form eines
Vertrages vor sich geht, der dann durch Bundesrath und Reichstag, d. h. im Wege
der Gesetzgebung, genehmigt wird. In Preußen hat man bei Gebietsveränderungen,
trotzdem Artikel 2 der preußischen Verfassungsurkunde die Veränderungen der
Grenzen des Staatsgebietes nur durch „Gesetz“ gestattet, den bloßen Consens
zwischen der Krone und der Landesvertretung in wiederholten Fällen für aus-
reichend erachtet. (Vgl. hierzu Bericht der Justizcommission des Herrenhauses vom
23. Februar 1877 in den Anlagen zu den Sten. Ber. des Herrenhauses 1877,
S. 120 f., 131 ff., und Verhandlungen des Herrenhauses am 26. Februar 1877,
Sten. Ber. S. 157 ff., und andererseits E. Meier, Ueber den Abschluß von
Staatsverträgen, Leipzig 1874, S. 252—261, und v. Rönne, Preuß. Staats-
recht, I, § 33, S. 144 ff.) Der Gebietsaustausch zwischen Baden und der Schweiz
ist durch Vereinbarung zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweiz vom
24. Juni 1879 (R.-G.-Bl. 1879, S. 307) „für das Deutsche Reich als rechts-
ültig“ anerkannt worden. Der Vertrag war vom Reichsgesetzgeber genehmigt
vgl. dagegen Seydel, Bayerisches Staatsrecht, I. S. 139, Anm. 4). In der
Sache wird es nur darauf ankommen, daß die Factoren der Gesetzgebung sich zu-
stimmend erklären. In der Form dürfte es correcter sein, wenn die Zustimmung
zur Veränderung der Landesgrenzen durch ein „Gesetz“ erfolgt. Dies ist auch die
neuere Praxis in Preußen; vgl. auch Arndt, Comm. zur preuß. Verfassung,
S. 46. Jedenfalls kann eine Veränderung des Reichsgebietes nur unter Zu-
stimmung des Bundesrathes und des Reichstages erfolgen, und zwar muß im
Bundesrath eine Mehrheit im Sinne des Artikels 78. Abs. 1 vorhanden sein. Hier-
über besteht kein Zweifel; s. auch Seydel, Bayer. Staatsrecht, I. S. 639.
Es kann ferner keinem Zweifel unterliegen, daß das Reich, von Friedens-
schlüssen abgesehen, keinen Gebietstheil eines Bundesstaates an das Ausland ab-
treten kann. Dies folgt daraus, daß das Reich die Befugniß hierzu durch teine
Vorschrift übertragen erhalten hat (ebenso mit etwas anderer Begründung
Laband, I, S 171). Nicht minder wird anzunehmen sein, daß das Reich auch
durch kein verfassungsänderndes Gesetz einen Bundesstaat ohne dessen Zustimmung
aus dyn Bundesgebiete ausscheiden kann (vgl. auch Seydel, Comm., 2. Aufl.,
S. 37).
Anders wird die Frage zu beantworten sein, wenn es sich um einen Friedens-
schluß zur Beendigung eines Krieges handelt. Denn in Artikel 11, Abs. 1 der Reichs-
verfassung ist dem Kaiser das Recht übertragen worden, im Namen des Reiches Krieg
zu erklären und Frieden zu schließen. Das Recht, Frieden zu schließen, ist an
keine Einschränkung geknüpft. Hieraus ist zu folgern, daß der Kaiser verfassungs-
mäßig das Recht hat, bei Friedensschlüssen auch Theile des Bundesgebietes ohne
Zustimmung von Bundesrath und Reichstag, sowie ohne Zustimmung der durch die
Abtretung berührten Bundesstaaten abzutreten (ebenso Arndt, Comm. zur Reichs-
verfassung, S. 128, Laband, Reichsstaatsrecht, I, S. 182 ff., Hänel, Staats-
recht, S. 546, Mohl, Reichsstaatsrecht, S. 13, E. Meier, Staatsverträge,
S. 303, G. Meyer, Staatsrecht, § 164; anderer Ansicht Seydel, Bayerisches
Staatsrecht, I, S. 639, und Commentar, 2. Aufl., S. 36 und 1611, M. Pröbst,
Annalen des Deutschen Reiches, 1882, S. 314 ff.).
Es ist durch die Reichsverfassung nicht untersagt und also statthaft, daß ein
außerdeutscher Fürst durch Erbfolge den Thron in einem deutschen Bundesstaate
1 Mit Recht bezieht sich Seydel, Comm., Gebiet ihrer Staaten verfügen und daher rechts-
S. 36, auf den Satz: Nemo plus juris in wirksam dem Kaiser die ihnen bis dahin zu-
alium transterre potest quam u. s. w. Indeß gestandenen Rechte durch die Reichsverfassung
die Landesgesetzgebungen konnten auch über das übertragen.