ß 15. Gebiet des Dentstchen Reiches. 73
erwirbt. Ebenso bildet die Reichsverfassung kein Hinderniß, daß ein Bundesfürst
den Thron in einem anderen deutschen Bundesstaate erwirbt, oder daß mehrere
deutsche Bundesstaaten durch Personal= oder Realunion mit einander verbunden
werden, oder daß zwischen mehreren Bundesstaaten Gebietsabtretungen oder
Gebietsaustausche erfolgen (ebenso Laband, Reichsstaatsrecht, 1, S. 175, E. Meier,
Ueber den Abschluß von Staatsverträgen, S. 253 ff., Arndt, Commentar zur
Reichsverfassung, S. 68, v. Rönne, Reichsstaatsrecht, S. 61 f., Seydel, Comm.,
2. Anfl., S. 37, während Thudichum, Verfassungsrecht des Norddeutschen
Bundes, S. 62, und v. Martitz, Betrachtungen über die Verfassung des Nord-
dentschen Bundes, S. 9, die Ansicht vertreten, daß nur unter Zustimmung sämmt-
licher Bundesstaaten die Vereinigung eines von ihnen mit einem anderen rechtlich
zulässig sei). Die Reichsverfassung verbietet endlich nicht, wie dies in Art. 6 der
Wiener Schlußacte vom 15. Mai 1820 (preuß. Ges.-S. 1820, S. 113) geschehen
war, eine freiwillige Abtretung auf einem Bundesgebiet haftender Souveränetäts-
rechte ohne Zustimmung der Gesammtheit an einen Nichtmitverbündeten, also einen
fremden Staat. Staatsrechtlich muß daher eine solche Abtretung für zulässig
gelten, zumal ein Antrag v. Carlowigh, der solche Abtretungen verbieten wollte,
im verfassungberathenden norddeutschen Reichstage abgelehnt wurde (Sten. Ber.
Bd. 11, S. 37, Actenstück Nr. 13). Selbstredend ändert eine solche Abtretung
nichts an den Rechten und Pflichten des abgetretenen Staates dem Reiche
gegenüber.
Schließlich mag noch hervorgehoben werden, daß die Veränderung des Bundes-
gebietes durch verfassungänderndes Gesetz, also im Bundesrath, mit der in Art. 78,
Abs. 1 vorgeschriebenen Mehrheit vor sich geht und nur in dieser Weise vor sich
gehen kann, daß aber die Zustimmung aller Bundesstaaten dazu nicht noth-
wendig ist.
Mehrere hervorragende Staatsrechtslehrer zählen als Folge und Ausfluß der
dem Reiche zustehenden Gebietshoheit noch eine Reihe von besonderen Vorschriften
auf, ohne zu beachten, daß Gebietshoheit nichts Anderes als die Staatsgewalt ist,
und daß das Reich nur die Befugnisse hat, welche ihm in der Verfassung aus-
drücklich übertragen oder auf Grund der Verfassung durch Reichsgesetze von ihm
besonders erworben find. Solche Vorschriften gelten daher nicht als Ausfluß oder
Folge eines allgemeinen Begriffes, sondern weil fie besonders und ausdrücklich ge-
geben worden sind.
1. Auf Grund Artikel 11 der Reichsverfassung hat der Kaiser die ihm durch
diese Vorschrift von den früher souveränen Landesgesetzgebungen übertragene Be-
jugniß, das Reich völkerrechtlich zu vertreten, ferner unter gewissen Einschränkungen
im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und
andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu
empfangen. Dieses Recht ist keineswegs als Ausfluß der „Gebietshoheit des
Neiches“ anzusehen 1.
2. Nach Artikel 4, Ziff. 1 der Reichsverfassung unterliegen der Gesetzgebung
des Deutschen Reiches die Bestimmungen über das Paßwesen. Auf Grund
dieser Verfassungsvorschrift erging das Gesetz über das Paßwesen vom 12. October
1867 (B.-G.-Bl 1867. S. 33), das in seinem § 9 den Kaiser ermächtigt, durch
Verordnung die Paßpflichtigkeit überhaupt oder für einen bestimmten Bezirk oder
zu Reisen aus oder nach bestimmten Staaten des Auslandes vorübergehend einzu-
führen, „wenn die Sicherheit des Bundes oder eines einzelnen Bundesstaates,
oder die öffentliche Ordnung durch Krieg, innere Unruhen oder sonstige Ereignisse
bedroht erscheint"“. Diese Ermächtigung hat der Kaiser nicht, weil es Anwendung
eines allgemeinen Princips ist 2, sondern weil sie ihm durch ein auf Grund Art. 4
der Reichsverfassung ergangenes Reichsgesetz besonders verliehen worden ist. Den
Einzelstaaten ist eine solche Ermächtigung nicht übertragen worden; folglich fehlt
1 Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, ! 2 Vgl. ebenda S. 177, Zorn, Staats-
S. 175 fl. recht, I, S. 105.