Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

74 Zweites Buch. Angehsrige und Gebiet des Deutschen Reiches. 
sie ihnen, weil sie ohne eine solche nichts anordnen dürfen, was gegen die vom 
Reiche im Wege der Gesetzgebung angeordnete Vorschrift der Paßfreiheit verstoßen 
würde. Mit ihrer Gebietshoheit hat die Sache nichts zu thun. 
3. Das Deutsche Reich ist, wie schon der deutsche Zollverein in handels- 
politischer Hinsicht, eine Einheit. Die Landesgesetzgebungen haben in den Art. 4, 
11, 33, 35, 54 u. a. O. der Reichsverfassung dem Reichsgesetzgeber die ausschließ- 
liche Befugniß ertheilt, den Waarenverkehr mit dem Zollauslande zu regeln, 
Handels= und Schifffahrtsverträge abzuschließen u. s. w. In § 167 des Vereins- 
zollgesetzes vom 1. Juli 1869 (B.-G.-Bl. 1869, S. 317) in Verbindung mit Art. 7. 
Ziff. 2 der Reichsverfassung haben sie dem Bundesrath die Ermächtigung ertheilt, 
vorübergehende Ausnahmen von der Ein= und Ausfuhrfreiheit, z. B. bei Kriegs- 
gefahr und aus sanitären Rücksichten, zu treffen (s. hierüber weiter unten und 
Arndt, Commentar zur Reichsverfassung, S. 185, Derselbe in Hirth's Annalen 
1895, S. 181 ff.). Alles dieses und was sonst hier bemerkt wird (vagl. z. B. 
Laband, Reichsstaatsrecht, I. S. 177 ff.), ist nicht die Folge eines allgemeinen 
Princips oder der Gebietshoheit des Reiches, sondern Specialvorschrift. 
4. Das Gleiche gilt für die in der Reichsverfassung gegebenen Vorschriften, 
Inhalts deren der Kaiser die Dislocation der deutschen Truppen anordnen (Art. 63, 
Abs. 4), jederzeit in jedem Theile des Reichsgebietes die kriegsbereite Aufstellung 
eines Truppentheils verfügen (Art. 63, Abs. 4), eine Festung überall im Reichs- 
gebiet anlegen (Art. 65) und in jedem Theile des Reichsgebietes den Belagerungs. 
zustand verhängen kann (Art. 68). Abgesehen davon, daß wenigstens dem Kaiser 
keine Gebietshoheit im Allgemeinen zusteht, aus welcher er die angeführten Be- 
fugnisse ableiten könnte, so handelt es sich auch hier überall um specielle Ermäch- 
tigungen, welche die Landesgesetzgebungen in und mit der Reichsverfassung kraft der 
ihnen so lange zugestandenen Souveränetät dem Kaiser ertheilt haben. 
5. Das Reich ist befugt, sowohl zu Vertheidigungszwecken, wie im Interesse 
des gemeinsamen Verkehrs Eisenbahnen ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen, auch 
gegen den Widerspruch der betheiligten Bundesstaaten, anzulegen (LCaband, Reichs- 
staatsrecht, I, S. 179), nicht weil seine Gebietshoheit stärker ist als die der Einzel- 
staaten, oder die Gebietshoheit der Einzelstaaten durch die Unterordnung unter die 
souveräne Gebietshoheit des Reiches vermindert oder beschränkt ist, sondern weil 
dem Reiche die Befugniß hierzu in Art. 41 der Reichsverfassung ganz besonders 
von den Landesgesetzgebungen übertragen worden ist. 
6. Bereits dann, als die einzelnen deutschen Staaten noch die volle Souve- 
ränetät und die uneingeschränkte Gebietshoheit besaßen, haben fie durch die Zoll- 
vereinigungsverträge den Verkehr unter einander freigegeben u. s. w., haben fie 
wenigstens in Zoll= und gemeinschaftlichen Steuervergehen sich wechselseitig Rechts- 
hülfe zugesichert und geleistet, haben sie ihren Gewerbetreibenden Freizügigkeit ge- 
währt und die Freiheit des Markt= und Meßverkehrs auch den Angehörigen aller 
anderen Zollvereinsstaaten eingeräumt. Ueberall hat man es bei den entsprechenden 
Vorschriften des heutigen Reiches nicht mit logischen Folgerungen aus dem Be- 
gris einer Gebietshoheit des Reiches, sondern mit besonderen Gesetzesbestimmungen 
zu thun. 
7. Wenn nach § 39, Ziff. 2 des Reichsstrafgesetzbuches die Landespolizei- 
behörde befugt ist, einen Ausländer, gegen welchen auf Polizeiaufficht erkannt ist, 
nicht bloß aus dem Landes-, sondern aus dem Bundesgebiete zu verweisen, 
so liegt darin eine besondere Ermächtigung, welche die Reichsgesetzgebung den 
Landesregierungen ertheilt. Die gleiche Ermächtigung ist den Landespolizei- 
behörden in den Fällen des § 284, Abs. 2 und § 362, Abs. 3 des Reichstrafgesetz- 
buches übertragen. Die Ausweisung aus einem einzelnen Bundesstaate wäre in 
den meisten Fällen keine wirksame Strafe. Da das Strafrecht Reichssache ist 
(Art. 9, Ziff. 13 der Verfassung), so kann das Reich die Landesregierungen mit 
der Befugniß ausrüsten, Ausländer, die Verbrechen begehen, aus dem gesammten 
Reichsgebiete auszuweisen. Auch hier haben wir keinen besonderen Ausfluß der 
Gebietshoheit zu verzeichnen. Die Behörden eines Einzelstaates können die Aus- 
weisung eines Ausländers aus dem Reichsgebiete nur auf Grund einer ausdrück-
	        
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