Mai
1882
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ihrem Taschengelde ersparte sie stets etwas für die Armen des Ortes, und
häufig ging sie in die niedrigste Hütte, um Kranken Trost und Hilfe zu bringen.
Als sie am Tage vor ihrer Hochzeit in Berlin einzog, wurde sie mit unendlichem
Jubel empfangen. Dem prachtvollen Krönungswagen gingen kleine Mädchen
vorauf, die Blumen streuten. Als Festlied bei der Trauung hatte die Prinzessin
das schöne Lied gewählt: „Jesu, geh voran!“ Man fragte sie, ob der 2. Vers:
Soll's uns hart ergehn, laß uns feste stehn usw. auch gesungen werden solle.
„Jawohl,“ entgegnete sie, „der soll erst recht gesungen werden; denn ich glaube
nicht, daß ich in meinem neuen Stande immer auf Rosen wandeln werde.“
Die Herzen ihrer Untertanen hat sich die Kaiserin sehr schnell erobert, und
jeder, der das Glück hat, in ihre Nähe zu kommen, rühmt ihre große Milde
und Freundlichkeit.
Im Jahre 1889 sollte bei Hannover große Kaiserparade abgehalten werden. Die
Kaiserin fuhr deshalb nach einem in der Nähe gelegenen Gute, wohin ihr das Reitpferd
gebracht war. Als sie den Wagen verlassen hatte, kam ihr das dreijährige Töchterchen
des Hauses mit einem Blumenstrauße entgegen und sagte freundlich: „Guten Morgen,
Tante Kaiserin!“ Diese war über den kindlichen Gruß so erfreut, daß sie das Kind auf
die Arme nahm und herzlich küßte. Alle Anwesenden jubelten laut. Dann setzte die
Koiserin das Kind zur Erde, bestieg ihr Pferd und ritt mit ihrem Gemahl zur Parade
inaus.
7. Die Kinder unseres Haisers. Der Kaiser hat sechs Söhne und eine
Tochter. Der älteste Sohn, der Kronprinz des Deutschen Reichs und von
A Preußen, heißt Wilhelm. Er ist geboren am 6. Mai 1882. Als Kaiser
Wilhelm I. die Kunde von der Geburt eines Urenkels erhielt, rief er freudig
aus: „Hurra, vier Kaiser auf einmal!“ Die übrigen Kinder heißen: Eitel
Friedrich, Adalbert, August, Oskar, Joachim und die Prinzessin Viktoria Luise.
Die Kinder sind die Freude und der Stolz ihrer Eltern. Dicht bei dem Neuen
Palais, einem Schlosse bei Potsdam, wo die kaiserliche Familie gewöhnlich im
Sommer wohnt, ließ der Vater ihnen einen prächtigen Spielplatz einrichten.
Dort tummelten sie sich nach Herzenslust. Am liebsten spielten sie Soldaten.
Der Kronprinz kommandierte.
Schon früh zeigte er Vorliebe für die Soldaten. Als er noch klein war, nahm er
gern eine Puppe mit ins Bett. Eines Abends fragte er die Wärterin: „Haben Soldaten
auch Puppen?“ „Nein,“ sagte diese, „Soldaten haben ein Gewehr.“ „Dann will ich auch
ein Gewehr haben,“ rief der Kronprinz, warf die Puppe fort und ging von jetzt an nur
mit einem kleinen, hölzernen Gewehr zu Bett.
Im Garten besaß jeder der Prinzen auch ein kleines Beet. Da konnte er
graben, pflanzen, begießen, ganz wie es ihm beliebte. Um 9 Uhr morgens begann
der Unterricht, der in der Regel bis 12 Uhr dauerte.
Wenn der Vater vom Exerzierplatze zurückkehrte, stellten sich die Prinzen
zuweilen in Reih und Glied auf und begrüßten ihn nach Soldatenart, indem sie
die rechte Hand an die Soldatenmütze legten. Er erwiderte dann wohl ihren
Gruß mit den Worten: „Guten Morgen, Grenadiere!“ Dann stürzten sie
jubelnd auf ihn zu und durchsuchten seine Rocktaschen, ob er nicht etwa eine
„Tute“ für sie mitgebracht habe. Nicht selten baten sie den Vater auch, sie
auf seinem Pferde reiten zu lassen. Der Kaiser hob dann diesen oder jenen
in den Sattel und führte das Pferd langsam im Hofe herum. Hatte er
noch Zeit, so begab er sich mit den Kleinen auch wohl in die Kinderstube, wo“