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sammlung eine entsprechende Anzeige bei der
Polizeibehörde erstattet wird. Sonst müssen alle
Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen in
deutscher Sprache geführt werden. Gemäß diesen
Vorschriften wurde es unmöglich gemacht, eine
der am 29. August 1909 bei Gelegenheit der
Generalversammlung der Katholiken Deutschlands
zu Breslau stattfindenden Arbeiterversammlungen
für die polnischen Arbeiter mit polnischen Reden
abzuhalten.
Durch das preußische Gesetz vom 4. Aug. 1904
hat der Staat die Befugnis erhalten, in der Pro-
vinz Posen für ländliche Güter unter bestimmten
Voraussetzungen die Kreisstandschaft und das
Wahlrecht zum Provinziallandtag zu verleihen.
Durch Königl. Verordnung kann ferner die Zahl
der Abgeordneten der Landgemeinden zum Kreis-
tag auf sechs für den Kreis erhöht werden. —
Diese Bestimmungen bezwecken, den Einfluß der
Polen in den Selbstverwaltungskörpern zurückzu-
drängen.
Durch eine große Anzahl der verschiedensten
Maßnahmen hat man geglaubt, der deutschen
Nation in den polnischen Landesteilen das Über-
gewicht verschaffen zu können. Der Erfolg ist, wie
von allen Einsichtigen zugegeben wird, nicht nur
hinter den Erwartungen zurückgeblieben, sondern
vielfach gerade in ganz entgegengesetzter Richtung
eingetreten: Die in ihrer freien Bewegung ge-
hinderten Polen sind vielfach, auch angelockt durch
den Arbeiterverbrauch der Großindustrie, nach dem
Westen, besonders nach Rheinland und West-
falen, ausgewandert — 1907 betrug ihre Zahl
schon über 200 000 —, haben hier sich in vielerlei
Organisationen zusammengeschlossen und verur-
sachen den Behörden nach den verschiedensten Rich-
tungen hin Schwierigkeiten. Die anfänglich wäh-
rend der langen Friedenszeit recht gemäßigte poli-
tische Stimmung der polnischen Bevölkerung wurde
seit den 1880er Jahren infolge der mannigfachen
Bedrängnisse durch Gesetzgebung und Verwal-
tung stets gereizter und radikaler. Den Lockungen
und Hetreden sozialdemokratischer Agitatoren
wurde willig Ohr geschenkt; auch in die Parla-
mente wurden mehrfach Abgeordnete radikaler
Richtung statt der bewährten früheren Vertreter
entsendet. Als das schlimmste Ergebnis der preu-
ßischen Polenpolitik ist der Umstand zu betrachten,
daß die seit mehr als hundert Jahren von den
Lolen Westpreußens und Posens in Geschichte und
turentwicklung völlig getrennte Bevölkerung
Schlesiens, namentlich Oberschlesiens, immer
mehr und mehr auf die frühere Stammesgemein-
schaft aufmerksam gemacht und zum Zusammen-
schluß mit den ihr bis dahin fremd gewesenen
Stammesgenossen gedrängt wird. Genaue, zu-
verlässige und ruhige Kenner der Verhältnisse
Oberschlesiens versichern, daß in weiten Land-
strichen die früher durchaus loyal gesinnte Be-
völkerung mehr und mehr in das Lager der Oppo-
sition gedrängt werde. Schon am 16. Dez. 1880
Polenfrage.
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faßte der Abg. Frhr v. Huene im preußischen Ab-
geordnetenhaus seine Ansicht in dieser Beziehung
dahin zusammen: „Wenn man überhaupt den
Gedanken fassen könnte, daß solche politische
(nationalpolnische) Aspirationen, denen der Herr
Kultusminister gestern Erwähnung tat, in Ober-
schlesien Eingang finden könnten, daß dann die
Maßnahmen der königl. Staatsregierung auf dem
Gebiet der Kirche und Schule den Boden dazu
geebnet haben.“ — Am 7. Febr. 1881 führte der
polnische Abgeordnete Dr v. Chlapowski im Ab-
geordnetenhaus aus: „Die Verfolgungen auf reli-
giösem Gebiet wie namentlich auf dem sprach-
lichen in der Schule und Verwaltung haben einzig
und allein unsere Interessen, die Interessen der
Polen in Posen und Westpreußen mit denen der
Oberschlesier vereinigt, weil sich unsere Klagen ver-
einigt haben... Niemand hat mehr die Gefühle
nationalen Gegensatzes, der Mißstimmung, des
Mißtrauens in Oberschlesien befördertuals diekönigl.
Regierung in Oppeln selbst durch ihre unkluge
Politik.“ —
Darüber kann kein Zweifel obwalten, es ist
einfach selbstverständlich, daß wenn seitens der
Polen landesverräterische Absichten gehegt und
der Versuch gemacht werden sollte, solche in die
Tat umzusetzen, dagegen mit aller Schärfe und
Entschiedenheit eingeschritten werden muß. Dazu
reicht aber die allgemeine Strafgesetzgebung und
Verwaltungsorganisation völlig aus. Ausnahme-
maßregeln, besonders auf dem Gebiet der Schule
und Kirche, können nur zum Schaden des Ganzen
ausschlagen.
Obwohl sich die Stimmen derjenigen, welche
behaupten, die preußische Polenpolitik sei durchaus
verfehlt, stets mehren — es sei nur hingewiesen auf
die wiederholten bemerkenswerten Darlegungen
und Schriften der Professoren Hans Delbrück
und Bernhard —, ist noch keine Aussicht auf Um-
kehr der Regierung vorhanden: Der preußische Etat
für 1910 sieht an antipolnischen Fonds allein
36 105 760 M vor, 403 514 M mehr als im
Jahr 1909! Moöchte bald eine starke Hand sich
finden, welche das Steuer der preußischen Polen--
politik mit entschiedenem Schwunge, wie einst Fürst
Bismarck bei der Anderung der Kulturkampfgesetz
gebung, herumwirft und den Kurs nimmt nach
dem Ziel der Gerechtigkeit!
Literatur. L. Bernhard, Das poln. Gemein-
wesen im preuß. Staat (1907); H. Delbrück, Die
P. (1894); Erzberger, Der Kampf gegen den Ka-
tholizismus in der Ostmark (1908); Amtl. Denk-
schriften über die Ausführung des Gesetzes vom
26. April 1886 betr. Beförderung deutscher An-
siedlungen in den Provinzen Westpreußen u. Posen
(gemäß § 11 des Gesetzes von 1886 alljährlich dem
preuß. Landtag vorgelegt); A. Wäber, Preußen
u. Polen; der Verlauf u. Ausgang eines 2000jähr.
Völkergrenzstreits u. dtsch--slaw. Wechselbeziehungen
(1907);C. Fink, Der Kampf um die Ostmark (1897);
Gesfcken, Preußen, Deutschland u. die Polen seit
dem Untergang des poln. Reichs (1906); Knorr