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gebenen Obersätzen an der Hand der Logik voll-
ständig und systematisch die Konsequenzen abzu-
leiten. In der Politik dagegen handelt es sich
nicht um ein ein für allemal Gegebenes oder in-
folge der geschichtlichen Entwicklung eines bestimm-
ten Staatswesens fest Gewordenes, sondern um ein
Bewegliches, um wechselnde Zwecke und die durch
dieselben bedingten Mittel. In einem doppelten
Sinn aber kann von wechselnden Zwecken die
Rede sein. Man kann dabei an eine inhaltliche
Veränderung der Aufgaben denken, welche durch
die geschichtliche Entwicklung und den Fortschritt
der Kultur den Trägern der staatlichen Autorität
gestellt werden, oder aber an die wechselnden Um-
stände, unter denen die gleichbleibenden Zwecke des
Staats verwirklicht und die unentbehrlichen Vor-
aussetzungen des staatlichen Lebens aufrecht er-
halten werden müssen. Es ist schief und irreführend,
von einem Machtzweck des Staats zu sprechen;
denn die Macht als solche ist streng genommen
nicht Zweck, sondern nur Mittel; richtig aber ist,
daß Unabhängigkeit und Selbständigkeit und da-
mit auch eine gewisse Machtstellung nach außen
zu den notwendigen Bedingungen eines vollendeten
Staatswesens gehören, deren Aufrechterhaltung
somit unter die bleibenden Aufgaben der staatlichen
Autorität fällt. Aber diese bleibende Aufgabe ge-
staltet sich verschieden, je nach den besondern Ver-
hältnissen des konkreten Staats und den Schwie-
rigkeiten und Gefahren, welche im gegebenen Fall
zu überwinden sind. Der eine bleibende Haupt-
zweck tritt so in wechselnden Einzelzwecken in die
Erscheinung, und es ist Sache der Politik, jedes-
mal die für die Erfüllung derselben geeignetsten
Mittel ausfindig zu machen. Hiernach kann man
sagen: Politik im Sinn von Staatskunst oder
Staatsklugheit ist die richtige Wahl der Mittel,
durch welche jeweilig die Zwecke eines konkreten
Staatswesens am besten realisiert werden; Politik
als Wissenschaft die systematische und vollständige
Erörterung der Gesichtspunkte, welche bei einer
solchen Wahl in Betracht kommen. Es wird gut
sein, dies noch etwas näher zu erläutern unter Be-
rücksichtigung der verschiedenen Richtungen, welche
staatliches Leben einschließt.
Richtungen und Aufgaben. Zu
der Aufgabe, die Unabhängigkeit und Selbst-
ständigkeit des Staats zu wahren, von welcher
soeben die Rede war, gesellt sich als eine zweite
die Aufrechterhaltung der bestimmten Form
und Einrichtung, welche durch die geschichtliche
Entwicklung desselben herbeigeführt wurde. Daß
es sich dabei ebenso oft um das Interesse der ein-
zelnen gehandelt hat, welche im Besitz der Staats-
gewalt waren, wie um das des Gemeinwesens,
verschlägt hier nichts. Schon Aristoteles untersucht
eingehend und scharfsinnig die Mittel, durch welche
ein solcher Zweck sich erreichen läßt oder welche von
der bezeichneten Aufgabe gefordert sind. Haller in
der „Restauration der Staatswissenschaften“ hat
für die einschlagenden Erörterungen den Namen
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Politik.
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Makrobiotik der Staaten aufgebracht. Daß die
Mittel andere sein müssen, je nachdem es sich
um ein monarchisches oder ein republikanisches
Staatswesen, um eine absolute oder konstitutionelle
Monarchie, eine aristokratische oder demokratische
Republik handelt, ist klar. Der erste und vornehmste
Zweck des Staats aber ist ayerkanntermaßen die
Durchführung der Rechtsordnung. Ein Ge-
meinwesen, welches hierauf verzichtete, hörte damit
aus, ein Staat zu sein. Aber das bewegliche Ele-
ment fehlt auch hier nicht, und es ist irrig, wenn
Holtzendorff die Rechtspflege ganz und gar aus
dem Bereich der Politik ausgeschieden wissen will.
Berechtigt ist dies nur bezüglich der richterlichen
Tätigkeit. Diesseits des Rheins wenigstens hat
sich bisher niemand gefunden, der den Satz öffent-
lich aufzustellen oder zu verteidigen wagte, daß sich
der Richter bei der Urteilssprechung unter Umstän-
den auch von andern als rechtlichen Erwägungen
leiten lassen dürfe oder gar solle. Die Organi-
sation der richterlichen Tätigkeit aber, Gerichts-
verfassung und Justizverwaltung, gehören in die
Politik oder werden von politischen Erwägungen
mitbestimmt. Frühere Zeiten fanden nichts daran
zu erinnern, wenn die Rechtspflege verschiedenen
Organen, Einzelpersonen oder Körperschaften,
zu selbständiger, sozusagen eigenmächtiger Ubung
übertragen war. Die Gegenwart will dieselbe aus-
schließlich in die Hand des Staats gelegt und im
Namen der staatlichen Autorität geübt wissen.
Aber auch abgesehen hiervon: Ziel der staatlichen
Rechtspflege ist, dafür zu sorgen, daß jeder in
seinem Recht geschützt, das Unrecht tunlichst ver-
hütet, das geschehene Unrecht bestraft, das ver-
weigerte Recht erzwungen werde. Der Weg aber,
der zu diesem Ziel hinführt, ist kein von vorn-
herein und ein für allemal gleichmäßig gegebener;
die Mittel, die ergriffen werden müssen, ändern
sich mit der fortschreitenden Entwicklung der Völ-
ker, mit den Veränderungen in wirtschaftlicher und
sozialer Beziehung, mit der Verschärfung und
Verfeinerung des Rechtsgefühls. Auf einer früheren
Stufe, unter einfacheren Verhältnissen konnte es
genügen, den in einzelnen Gewalttaten und Rechts-
verletzungen hervorbrechenden bösen Willen straf-
rechtlich zurückzuweisen und durch die Furcht vor
der Strafe andere von gleicher Übeltat abzu-
schrecken. Die unendlich verwickelten Beziehungen,
in welche der gesteigerte und mannigfach ausgestal-
tete Verkehr der Neuzeit die Menschen miteinander
bringt, lassen es auf vielen Gebieten als wünschens-
wert oder notwendig erscheinen, durch ein wohl-
erwogenes System von Präventivmaßregeln nicht
nur dem Ausbrechen des bösen Willens vorzu-
beugen, sondern noch darüber hinaus die Rechts-
sphäre der Einzelnen mit starken Schranken zu um-
geben. Die deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung der
letzten Jahrzehnte kann als Beispiel hierfür gelten.
Ganz allgemein zeigt sich in der Ausbildung des
Rechts auf dem Weg der Gesetzgebung das
politische Moment darin, daß je nachdem dem
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