Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Repressiv-oder dem Präventivsystem der Vorzug 
gegeben wird und bald das Bestreben maßgebend 
ist, einem jeden möglichst weiten Raum zur Ent- 
faltung seiner Kräfte zu schaffen, bald die Macht 
des Staats in vorzüglicher Weise den Schwachen 
zugut kommt. Was die Gerichtsverfassung be- 
trifft, so ist klar, daß beispielsweise die Unabhängig- 
keit der Gerichte und der möglichst weite Zugang 
zur Rechtsprechung in verschiedener Weise gesichert 
werden können. Endlich mag noch an die Ord- 
nung der Rechtsanwaltschaft erinnert werden, um 
darzutun, durch wie zahlreiche Fäden die staatliche 
Rechtspflege mit der Politik zusammenhängt. 
Die politische Reflexion hat sich allerdings zu- 
nächst nicht an diesen, sondern an Machtfragen 
entwickelt; in der Geschichtsdarstellung hat man 
sich lange Zeit begnügt, nahezu ausschließlich die- 
jenigen politischen Begebenheiten zur Erörterung 
zu bringen, welche mit der Machtstellung der 
Fürsten und Staaten im Zusammenhang standen, 
und ebensolang hat der Sprachgebrauch des ge- 
wöhnlichen Lebens den Namen der Politik vor- 
zugsweise auf die hierauf gerichteten Handlungen 
oder Erörterungen angewandt. Eine Erweiterung 
brachte das Aufkommen des Konstitutiona= 
lismus. Zu den Fragen der Politik, welche 
das allgemeinste Interesse erweckten und mit dem 
größten Eifer durchgefochten wurden, gehörten 
jetzt die nach den Befugnissen der Volksvertretung 
und den Prärogativen der Krone, den Rechten 
der Staatsbürger und der Stellung der Beamten 
und überhaupt alle diejenigen, welche das Heraus- 
treten des modernen Staats als eines Haupt und 
Glieder umfassenden Gemeinwesens aus älteren, 
vielfach durch privatrechtliche Anschauungen beein- 
flußten Gestaltungen begleiteten. Um Zwecke des 
staatlichen Lebens handelt es sich hier insofern, als 
dieses letztere jederzeit bestrebt ist, bestimmte For- 
men anzunehmen, wobei der Charakter der Nation 
und die wechselnden Perioden des wirtschaftlichen 
und gesellschaftlichen Lebens zusammen mit der 
Entfaltung der Rechtsidee und der Reflexion über 
Wesen und Ziel des Staats zu mannmigfach ge- 
arteten Einrichtungen und Organisationen hin- 
führen. Von den hieraus sich ergebenden poli- 
tischen Aufgaben der Begründung, Erhaltung und 
Durchführung einer bestimmten Verfassungsform 
war schon oben die Rede. 
Das Interesse an Fragen, welche nur die Form 
und rechtliche Ordnung des Gemeinlebens be- 
treffen, hat in der Neuzeit mehr und mehr dem 
Interesse an den andern weichen müssen, welche 
sich auf den Inhalt des sozialen Lebens be- 
ziehen. Wenn eine Zeitlang von Theoretikern be- 
hauptet wurde, daß dasselbe seine vollste und am 
meisten befriedigende Entfaltung gewinne, wenn 
der Staat sich jeden Eingreifens enthalte und alles 
der freien Initiative einzelner Personen oder der 
Vereinigung solcher überlasse, so hat es in Wirk- 
lichkeit wohl niemals eine Periode und ein mensch- 
liches Gemeinwesen gegeben, wo ein solcher Zu- 
  
Politik. 
  
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stand tatsächlich durchgeführt worden wäre, und 
auch in der Wissenschaft dürfte die dahingehende 
Auffassung allgemein aufgegeben sein. Zumal in 
den verwickelten Verhältnissen des modernen Lebens 
kann der Staat sich nicht damit begnügen, den 
Bürgern nur die äußere und innere Rechtssicher- 
heit zu gewährleisten; seine Aufgabe ist, hierüber 
hinausgehend, die Wohlfahrt der Gesamtheit 
positiv zu fördern. Die grundsätzliche Erörterung 
und Begründung dieser Lehrmeinung gehört an 
eine andere Stelle (s. d. Art. Staat). Geht man 
aber davon aus, daß die Förderung der gemeinen 
Wohlfahrt zu den Zwecken des Staats gehört, 
so ist einleuchtend, daß es sich hier nicht nur um 
wechselnde Bedingungen handelt, unter denen ein 
bleibender Zweck zu realisieren ist, sondern um 
verschiedenartige, nach Ort und Zeit wechselnde 
Aufgaben und Einzelzwecke. Die umfassende Be- 
rücksichtigung dieser Aufgaben hat der Staats- 
kunst wie der politischen Erörterung eine unge- 
heure Steigerung ihres Inhalts wie ihrer Bedeu- 
tung gebracht. Esmag genügen, dies durch eine kurze 
Ülbersicht der einschlagenden Fragen zu erläutern. 
Die menschheitlichen Interessen, welche unter 
den Wohlfahrtszweck des Staats fallen, teilen sich 
in solche der Wirtschaft und solche des geistigen 
Lebens. Die Wirtschaft hinwiederum gliedert sich 
in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, und 
demgemäß die Wirtschaftspolitik des Staats in 
Agrarpolitik, Gewerbepolitik und Handelspolitik. 
In der Agrarpolitik kommt ein Doppeltes 
in Betracht: die Stellung des Staats zur land- 
wirtschaftlichen Produktion und seine Stellung 
zur landwirtschaftlichen Bevölkerung. Daß die 
einheimische Produktion der hauptsächlichsten Nah- 
rungemittel imstande sei, den einheimischen Be- 
darf zu decken, wird man von vornherein geneigt 
sein, als ein allgemein anzustrebendes Ziel zu be- 
zeichnen. Wirtschaftspolitische Erwägungen aber 
müssen feststellen, ob die Erreichung desselben unter 
gegebenen Verhältnissen dem einzelnen Staat mög- 
lich, ja ob sie wünschenswert ist, oder ob vielleicht 
bei fortgeschrittener industrieller Entwicklung und 
  
günstigen Handelsbeziehungen der Ausfall vorteil- 
haft durch Austausch gegen Industrieprodukte 
gedeckt werden kann. Sind Maßregeln zur He- 
bung der einheimischen Produktion angezeigt, so 
fragt es sich wieder, ob solche sich auf das ganze 
Gebiet derselben erstrecken sollen oder nur auf 
einzelne Zweige, Körnerbau, Viehzucht usw. Mittel 
zur Hebung sind Belehrung und Aufmunterung 
durch landwirtschaftliche Lehranstalten, Ausstel- 
lungen, Musterwirtschaften, Prämien, sodann die 
billige Beschaffung geeigneter Wirtschaftsmittel: 
Saatfrucht, Zuchtvieh, Düngerstoffe usw. Zugleich 
aber fragt es sich, ob der Staat alle diese Dinge 
unmittelbar in die Hand nehmen und durch seine 
Beamten besorgen oder ob er dieselben landwirt- 
schaftlichen Genossenschaften überlassen solle, auf 
deren Bildung und Beaufsichtigung er seine Ein- 
flußnahme beschränkt.
	        
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