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als zu dem letzten Mittel greifen darf, nachdem
alle Versuche eines friedlichen Austrags gescheitert
sind. Zum zweiten fordert das Sittengesetz, dieses
Ubel nach Tunlichkeit einzuschränken. Wie die
Selbstverteidigung des einzelnen nicht über das
zur wirksamen Abwehr des Angriffs Erforderliche
hinausgehen darf, so sind auch im Krieg alle
Maßnahmen unerlaubt, welche nicht durch den
Zweck des Kriegs notwendig gefordert sind. Daß
entgegen der Roheit und Barbarei früherer Jahr-
hunderte diese Uberzeugung in der Gegenwart
mehr und mehr zum Durchbruch gekommen ist und
daß sich aus den ersten, der ritterlichen Ehre und
Sitte entstammten Anfängen ein internationales
Kriegsrecht auszubilden begonnen hat, darf mit
Befriedigung konstatiert werden. Die Behand-
lung von Verwundeten und Gefangenen, die
Neutralität der Verbandplätze und Kriegslazarette,
die Abschaffung der Kaperei sind hierher zu zählen,
und wenn leider Plünderung und Mißhandlung
auch aus den modernen Kriegen nicht ganz ver-
schwunden sind, so wagt doch niemand, sie als
unentbehrliche Mittel der Kriegführung zu ver-
teidigen.
Wenn der Krieg nur um einer gerechten Ursache
willen erlaubt ist, also namentlich als Vertei-
digungkrieg, so sind hiervon selbstverständlich die
Fälle auszunehmen, wo es einer gewissenlosen
Diplomatie gelingt, den Feind ins Unrecht zu
setzen und zu einer Kriegserklärung zu provozieren,
um so den Schein berechtigter Abwehr zu ge-
winnen. Schwieriger ist die Entscheidung einer
andern Frage. Es ist der Fall denkbar, und die
Gegenwart läßt es nicht an tatsächlichen Anhalts-
punkten für eine solche Erörterung fehlen, daß nach
menschlichem Ermessen der Krieg zwischen zwei
Staaten auf die Länge unvermeidlich und sein
wirkliches Ausbrechen nur eine Frage der Zeit ist.
Darf nun ein Staatsmann diesen Krieg, der doch
einmal kommt, zu einer bestimmten Zeit absichtlich
herbeiführen, weil dieser Zeitpunkt für den eignen
Staat die besseren Chancen bietet, sei es wegen
des Stands der beiderseitigen Rüstungen oder
wegen gewisser Schwierigkeiten, in denen sich
augenblicklich der andere Staat befindet? Ist es
nicht vielleicht sogar patriotische Pflicht, den Mo-
ment zu ergreifen und nicht zu warten, bis sich
die Chancen zugunsten des Feinds verschoben
haben? Der Gedanke hat etwas Bestechendes, und
dennoch ist die Frage zu verneinen. Solang der
Krieg nicht wirklich ausgebrochen ist, besteht die
Möglichkeit, daß er, wenn auch im Widerspruch
mit allen Erwartungen, vermieden bleiben werde.
Auf diese Möglichkeit Verzicht zu leisten und den
Krieg absichtlich herbeizuführen, muß daher als
sittlich unzulässig bezeichnet werden.
An zwei Punkten pflegt auch noch in der Gegen-
wart Ubung und Beurteilungsweise hinter den
Forderungen des Sittengesetzes zurückzubleiben:
es ist dies das Verhalten der zivilisierten Völker
gegenüber tiefer stehenden und sodann das Kund-
Politik.
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schafterwesen. Das Bestreben, durch den Erwerb
von Kolonien der einheimischen Industrie neue
Absatzgebiete zu eröffnen, ist an sich zweifellos be-
rechtigt; im höchsten Grad verwerflich aber ist es,
wenn dabei die ursprünglichen Bewohner jener
Länder wie eine rechtlose Herde angesehen werden,
die man ohne Skrupel mihachten, ausbeuten,
mißhandeln könne. Derselbe Umfang natürlicher
Rechte, dessen wir uns rühmen, steht auch dem
sog. Wilden zur Seite, er hat den gleichen An-
spruch auf die Achtung derselben. Auch sollten sich
die Leiter der Kolonialpolitik von Anfang an der
Pflicht bewußt sein, eine tiefer stehende Bevölke-
rung zur Zivilisation zu erziehen, wozu sich dann
freilich die Verbreitung der christlichen Lehre als
unentbehrliche Grundlage und einzig wirksames
Mittel erweisen wird. — Was das andere betrifft,
so ist ja die Kenntnis der Stellung und Stärke
des Feinds, seiner Absichten und Maßnahmen
eines der wichtigsten Mittel erfolgreicher Krieg-
führung. Aber ein gesunder Zustand ist es sicher-
lich nicht, wenn Staaten mitten im Frieden ein-
ander gegenseitig mit einem Netz von Kundschaftern
überziehen, zugleich aber Gesetze gegen Spionage
machen und die derselben Überführten im Namen
des Rechts verurteilen. Dazu kommt, daß mit der
Auskundschaftung in Krieg und Frieden nur zu
oft die Aufforderung zu Treubruch und Verrat
verbunden zu sein pflegt, welche unter allen Um-
ständen als unsittlich zu verwerfen ist.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Frage
nach der Zulässigkeit der Mittel am häufigsten in
Bezug auf den Verkehr der Staaten untereinander
aufgeworfen wird. Auch in der innern Politik
aber fehlt es keineswegs an Anlässen, sie zu er-
örtern und mit aller Schärfe auszusprechen, daß
die Wahl unsittlicher Mittel niemals, auch für
den genialsten Staatsmann nicht, gestattet ist.
Ich denke hier namentlich an die systematische
Fälschung der öffentlichen Meinung mit Hilfe
einer erkauften Presse. Nicht minder aber ist es
der Kampf der politischen Parteien, welcher allzu-
oft die Berücksichtigung jenes Grundsatzes ver-
missen läßt. Man bedenke nur, welches Maß von
Verhetzung, von persönlichen Verdächtigungen,
von Verdrehung und Entstellung entgegenstehender
Ansichten die Wahlen zu den verschiedenen parla-
mentarischen Körperschaften regelmäßig zu Tage
fördern, — um von den weit drastischeren Mitteln
zu schweigen, durch welche beispielsweise in den
Vereinigten Staaten von Amerika die Parteien
einander den Sieg bei der Präsidentenwahl streitig
zu machen bemüht sind.
So ist also nicht die Politik als souverän der
Moral gegenüber zu bezeichnen, sondern gerade
umgekehrt die volle Herrschaft der Moralgesetze
auf dem politischen Gebiet zu proklamieren, in-
sofern keine Handlung, welche moralisch verwerflich
ist, als politisch zulässig gelten darf. Die Beant-
wortung der weiteren Fragen, ob es nun auch
Aufgabe des Staats sei, jede Übertretung des