Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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dem Deutschen Reich (1872) und der Lourenço 
Marques--Vertrag mit England (1879), letzterem 
der Vertrag mit der „Afrikanischen Gesellschaft" 
(1885), welcher das beiderseitige Gebiet am 
unteren Kongo abgrenzte. Ein bis zur Ratifi- 
kation gediehener Vertrag mit England (1884), 
welcher das untere Kongogebiet in den ausschließ- 
lichen Besitz der Engländer und Portugiesen 
bringen sollte, war am Widerspruch des Deut- 
schen Reichs gescheitert. Im Innern kam es zu 
mancherlei den Anforderungen der neueren Zeit 
entsprechenden Reformen, als: Aufhebung der 
Majorate, ausgenommen das Kronfideikommiß 
(1863), Abschaffung der Todesstrafe, Einführung 
eines neuen Zivilgesetzbuchs (1867) und Straf- 
gesetzbuchs (1886), Aufhebung der Sklaverei in 
den Kolonien (1868) usw. Anderungen in der 
Verwaltung und im Steuerwesen riefen im Jahr 
1867 an verschiedenen Orten, z. B. in Oporto, 
Ruhestörungen hervor, welche mit Waffengewalt 
unterdrückt werden mußten. Auch in den besseren 
Kreisen der Bevölkerung fehlte es nicht an Unruhe- 
stistern. Feldmarschall Herzog von Saldanha 
wußte im Jahr 1870 die Garnison von Lissabon 
für sich zu gewinnen, überfiel den König in seinem 
Palast und nötigte ihm die Ernennung zum 
Ministerpräsidenten ab. Um der sich steigernden 
Unzufriedenheit zu steuern, legte das Ministerium 
im Jahr 1884 den Cortes mehrere Entwürfe zur 
Abänderung der Verfassung vor, wonach unter 
anderem in der Pairskammer künftig 100 vom 
König auf Lebenszeit ernannte und 50 mittel- 
bar gewählte Pairs sitzen und das auf dem Ver- 
mögenszensus beruhende Wahlrecht zur Depu- 
tiertenkammer eine Erweiterung erfahren sollte. 
Unterm 24. Juli 1885 erlangten diese Vorschläge 
Gesetzeskraft; aber ihren Zweck, zu beruhigen, 
erreichten sie nicht; eine Hauptquelle der Unzu- 
friedenheit war nicht verstopft: die sich von Jahr 
zu Jahr steigernde Finanzkalamität. Als Luis I. 
am 19. Okt. 1889 seinem jugendlichen Sohn 
Carlos die Krone hinterließ, stand Portugal 
vor dem Staatsbankrott. Im Juli 1892 mußte 
es die Zinsen seiner auswärtigen Schuld auf ein 
Drittel herabsetzen. Im Jahr zuvor hatte es von 
England eine schwere Demütigung hinnehmen und 
28. Mai 1891 ein Abkommen annehmen müssen, 
worin es auf die mit den Reisen Serpa Pintos 
beabsichtigte territoriale Verbindung von Ben- 
guela mit Mozambique verzichtete. Der Verlust 
der Kolonien ist nur noch eine Frage der Zeit. 
Die vollständige Abhängigkeit von England zeigte 
sich auch im Burenkrieg, wo Portugal den Eng- 
ländern die Häfen Lourenco Marques und Beira- 
zur Verfügung stellte. 
Das parlamentarische Leben ist unfruchtbar. In 
den letzten Jahrzehnten wechselten nach dem sog. 
Rotativsystem die beiden herrschenden Parteien in 
der Regierung ab, die Regeneradores unter Hintze- 
Ribeiro und die Progressisten oder Liberalen unter 
Luciano de Castro. Dabei handelt es sich aber 
Portugal. 
  
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weniger um Prinzipien als um die Macht und 
einträgliche Stellungen. 1901 bildete Franco 
eine neue Partei, die liberalen Regeneradores, 
um eine ehrlichere Parteipolitik, administrative 
und soziale Reformen durchzusetzen. Mai 1906 
wurde er Ministerpräsident, geriet aber bald in 
Konflikt mit der Kammer, regierte seit 1907 ohne 
sie und führte eine Reihe von Reformen durch 
einfache Dekrete ein. Nach und nach ließ er sich 
vom König seine Vollmachten bis zur Diktatur 
erweitern, änderte auch die Verfassung durch Ver- 
ordnung und ging gegen die Presse und seine 
Gegner immer schroffer vor. 1. Febr. 1908 
wurden König Carlos und der Kronprinz er- 
mordet. Francos Politik war gescheitert und er 
trat sofort zurück. Um die Krone für Carlos 
jüngeren Sohn, den eben volljährigen Manuel II., 
zu retten und die Ordnung aufrecht zu erhalten, 
vereinigten sich die Regeneradoren und Progres- 
sisten und bildeten ein aus beiden Parteien ge- 
mischtes „Konzentrationsministerium“, dem in den 
nächsten 1 ½ Jahren schon wieder drei weitere 
folgten. Dez. 1909 ging das Bündnis ausein- 
ander, und es folgte ein progressistisches Mini- 
sterium Beirao, das April 1910 eine Wahlreform 
(namentlich Wahlpflicht und neue Wahlkreisein- 
teilung) einbrachte, Juni 1910 eines aus den 
Regeneradores unter Teixeira de Souza. 
II. Fläche und Bevölkerung. Das König- 
reich Portugal besteht aus dem auf der Iberischen 
Halbinsel gelegenen Stammland, 88740 qkm 
mit 1900: 5016267 Einwohnern (57 auf den 
Quadratkilometer) und den politisch und staats- 
rechtlich völlig gleichberechtigten Inseln Azoren 
(2388 qkm mit 256 291 Einw.) und Madeira 
(815 qkm mit 150574 Einw.); insgesamt 
91943 qkm mit 5 423 132 Einw. (25916600 
männliche, 2 831 532 weibliche). Die Zunahme 
gegen 1890 betrug 378 930 (im jährlichen Durch- 
schnitt 0.75 % ). Am dichtesten besiedelt sind im 
Festlandteil das Granitgebiet des Nordens, die 
Landschaften Minho (162, im Distrikt Porto 259 
auf 1 qkm), Douro (94, Distrikt Aveiro 110) 
sowie Beira Alta (80), am dünnsten der Süden 
(Alemtejo 17) und das wasserarme Gebiet der 
Tajo= und Sadoebene (Beira Baixa 39 auf 
1 ckm); auch Traz os Montes (39 auf 1 qkm) 
und Algarve (51) bleiben unter dem Durchschnitt. 
Die Bevölkerung ist, obwohl der Abstammung 
nach aus Keltiberern, Romanen, Germanen und 
Arabern entstanden, jetztethnographisch, linguistisch 
und konfessionell fast völlig einheitlich. Von den 
Fremden (1900: 41728) waren 27 029 Spanier, 
7594 Brasilianer, 2292 Engländer, 1841 Fran- 
zosen, 929 Deutsche, 646 Nordamerikaner, 561 
Italiener. Protestanten wurden 1900 4491, 
Juden 481 gezählt. Die Auswanderung aus 
Portugal ist in fortwährender Zunahme begriffen 
(1903: 21 611, 1907: 41 950); sie richtet sich 
hauptsächlich nach Brasilien und den Vereinigten 
Staaten. 32,4 % der Einwohner des kontinen-
	        
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