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losen König von den Ministern abschloß und
dem Einfluß unwürdiger Günstlinge (Wöllner,
Bischoffswerder) preisgab. Das Religionsedikt
(9. Juli) und das Zensuredikt (19. Dez. 1788)
erstickten jede freiere Geistesrichtung; nur mit
Mühe gelang es, die Verkündigung des Allge-
meinen Landrechts (5. Febr. 1794) durchzusetzen.
Verschwendung und erfolglose Kriege zerrütteten
Heer und Finanzen: der kostspielige Feldzug nach
Holland (1787) brachte keinen Vorteil, der Kampf
gegen das revolutionäre Frankreich an Osterreichs
Seite endete mit der Abtretung der linksrheinischen
Besitzungen in dem unrühmlichen Separatfrieden
zu Basel (5. April 1795). Allerdings stieg der
Umfang Preußens durch Heimfall von Ansbach
und Bayreuth (1791) und die Erwerbungen in
der zweiten und dritten Teilung Polens (23. Jan.
1793 Südpreußen, Danzig und Thorn gegen
Abtretung von Tauroggen und Serrey an Ruß-
land; 24. Okt. 1795 Neuostpreußen mit War-
schau und Neuschlesien) auf 305 669 qkm mit
8687000 Einwohnern, aber dieses schwerfällige
deutsch-slawische Mischreich befand sich im Zustand
der Demoralisation und des Rückgangs und ver-
zichtete auf Ausübung seiner Großmachtstellung.
Die innere Entwicklung geriet in Stillstand; es
begann jene Erstarrung, die ein Jahrzehnt lang
Preußens Heerwesen und Verwaltung gelähmt
hat. Der Schatz war längst aufgezehrt, und Geld-
mangel war ein Hauptgrund zu Preußens Un-
freiheit und Friedensliebe. Friedrich Wil-
helm III. (1797/1840) war trotz seiner per-
sönlichen Vorzüge diesen schwierigen Verhältnissen
nicht gewachsen. Seine scheue Natur war allen
Neuerungen abgeneigt, daher unterblieb die so
notwendige sittliche Regeneration von Staat und
Gesellschaft. Kabinettsregierung, Verwaltung und
Heerwesen blieben unverändert, und in der aus-
wärtigen Politik sahen die Lucchesini, Lombard,
Haugwitz das einzige Heil in der Weiterführung
eines schwächlichen Friedensverhältnisses zu Frank-
reich. Preußen erreichte dadurch allerdings zu-
nächst territorialen Gewinn (durch den Reichs-
deputationshauptschluß vom 25. Febr. 1803 die
Stifte Hildesheim und Paderborn, den größten
Teil von Münster, die kurmainzischen Besitzungen
in Thüringen und dem Eichsfeld usw., mehr als
230 Quadratmeilen gegen 48, die es links des
heins verloren hatte), wurde aber damit allmäh-
lich ganz isoliert. Nach schmählichen Demütigungen
(Vertrag von Schönbrunn, 15. Dez. 1805; Pa-
riser Vertrag, 15. Febr. 1806) trieb die treulose
Politik Napoleons (Intrigen gegen die von ihm
zugestandene Gründung eines norddeutschen Bun-
des unter Preußen und Unterhandlungen mit Eng-
land über das von ihm selbst an Preußen abgetre-
tene Hannover) den König im Okt. 1806 zu dem
unglücklichen Krieg, welcher das Werk Fried-
richs II. vernichtete. Preußen verlor im Frieden
von Tilsit (9. Juli 1807) alle Besitzungen west-
lich der Elbe, Kottbus, die polnischen Erwer-
Preußen.
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bungen von 1793 und 1795 und Kulmerland
nebst Thorn.
Durch Selbsterkenntnis fanden König und Volk
den Weg zur Befreiung vom fremden Joch.
„Weckung der sittlichen Kräfte im Volk durch ihre
Beziehung auf das Leben der Gesamtheit“ war
das Ziel der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung
(Stein vom 5. Okt. 1807 bis 24. Nov. 1808,
Hardenberg seit 6. Juni 1810 an der Spitze der
gesamten Zivilverwaltung). Diese schuf durch
Beseitigung der Erbuntertänigkeit (9. Okt. 1807)
einen freien Bauernstand und bahnte durch die
Städteordnung (19. Nov. 1808) die Selbst-
verwaltung an; die „Verordnung über die ver-
änderte Verfassung der obersten Verwaltungs-
behörden der Monarchie“ (24. Nov. 1808) bildet
bis heute die Grundlage der innern Verwaltung
Preußens. An die Stelle des Generaldirektoriums
mit seinen schwerfälligen Provinzialministerien trat
ein Gesamtministerium von fünf Fachministern für
Inneres, Außeres, Finanzen, Justiz und Krieg;
die Kriegs= und Domänenkammern wurden zu
(acht) Regierungen umgeschaffen, die schwachen
Regierungsbezirke zu (drei) lebenskräftigen Pro-
vinzen unter Oberpräsidenten vereinigt; die höchste
Behörde der Monarchie und begutachtende Instanz
für Akte der Gesetzgebung sollte der Staatsrat
werden. Der Volksbildung wandte Stein seine
ganz besondere Aufmerksamkeit zu und plante eine
vollständige Neuordnung des Unterrichtswesens.
Hand in Hand mit diesen Reformen ging die
Umgestaltung des Heerwesens durch Scharnhorst,
Gneisenau, Boyen, Grolmann (die „neuen Kriegs-
artikel“, 3. Aug. 1808), deren Ziel das Volk in
Waffen, d. h. allgemeine Wehrpflicht und Weg-
fall jeglicher Befreiung war. Zugleich arbeiteten
edle Geister (Fichte, Arndt; Tugendbund) an der
sittlichen Neubelebung des Volks, in welchem sie
Liebe zum Vaterland und Gefühl für seine Ehre
zu wecken verstanden. Außerordentliches leistete
Preußen im Befreiungskampf, fand aber für die
gewaltigen Opfer nicht die gehoffte Entschädigung.
Die Wiener Verhandlungen gestalteten sich zu
einer halben Niederlage seiner Politik; denn der
preußische Staat erlangte nicht die gewünschte
Abrundung, sondern behielt seine Zerrissenheit.
Wiedererworben wurden alle ehemals preußischen
Landesteile außer Neuschlesien, Neuostpreußen,
dem östlichen Teil von Südpreußen, Ansbach und
Bayreuth, Hildesheim, Goslar, Ostfriesland, der
niederen Grafschaft Lingen, dem nördlichen Teil
von Münster und einigen kleineren Gebieten im
Westen; dazu gewann es die größere Hälfte von
Sachsen, Schwedisch-Pommern nebst Rügen (ein-
getauscht von Dänemark gegen Lauenburg) und
eine Anzahl neuer Gebiete, welche mit früheren
Besitzungen zu den Provinzen Rheinland und West-
salen vereinigt wurden. Die Ordnung und Ein-
richtung des neugebildeten Staats (278 042 qkm
mit 10,4 Mill. Einwohnern) erforderte viel Zeit
und Mühe: die alten und neuen Gebiete wurden