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noch einmal der dänische Krieg von 1864; die
Frage über das Schicksal der Elbherzogtümer
steigerte die Spannung und führte schließlich 1866
zur Lösung der deutschen Frage. Der siegreiche
Krieg beendete den langjährigen Verfassungsstreit
(Indemnitätsgesetz vom 14. Sept. 1866) und
brachte dem Staat, der ein halbes Jahrhundert
fast unverändert geblieben war (Erwerbungen:
1834 Fürstentum Lichtenberg durch Kauf von
Coburg-Gotha, 1850 durch Staatsvertrag die
Fürstentümer Hohenzollern, 1854 durch Kauf ein
Gebiet am Jadebusen), jene Abrundung und Aus-
füllung seines Ländergebiets, die man 1815 ver-
gebens erstrebt hatte. Der endgültige Gewinn von
Schleswig-Holstein (Lauenburg erst 1876 ein-
verleibt), die Annexion von Hannover, Kurhessen,
Nassau, Frankfurt, Hessen-Homburg und die Ab-
tretung kleinerer Gebietsteile von Bayern (Orb,
Gersfeld, Kaulsdorf) und Hessen (Kreis Bieden-
kopf) erhöhten den Besitzstand um 73 230 qkm.
Das mächtig erstarkte Preußen übernahm die
Führung im Norddeutschen Bund und schuf durch
Abschluß von Schutz= und Trutzbündnissen mit
den süddeutschen Staaten und durch Einberufung
der Zollparlamente nach Berlin (1868/70) die
Grundlage, auf welcher mitten im Krieg von
1870/71 der Bau des neuen Deutschen Reichs
mit preußischer Spitze sich aufrichtete.
Die Landtagsverhandlungen der nächsten Jahre
waren überwiegend ausgefüllt durch die kirchen-
politischen Kämpfe. Eine umfassende Reform
der innern Verwaltung, die den Bruch Bis-
marcks mit den Konservativen zur Folge hatte,
begann mit der neuen, auf dem Grundsatz der
Selbstverwaltung beruhenden Kreisordnung vom
13. Dez. 1872, welcher die Gesetze über die neue
Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 und über
die Verwaltungsgerichte vom 3. Juli 1875 sowie
das Dotationsgesetz und die neue Synodalverfas-
sung (1878/76) folgten. Die Schwenkung Bis-
marcks auf wirtschaftlichem Gebiet hatte auch eine
Anderung der innern Politik Preußens zur Folge.
Seine Versuche, durch Schöpfung eines Volks-
wirtschaftsrats (17. Nov. 1880) und Wieder-
belebung des Staatsrats (1884) Gegengewichte
gegen Parlament und Minister zu schaffen, waren
von keiner dauernden Bedeutung. Seit dem Bruch
mit den Liberalen (1879) näherte er sich den
Konservativen: es erfolgten Veränderungen im
Steuerwesen (unter anderem 1883 Auphebung
der beiden untersten Stufen der Klassensteuer,
1885 lex Huene), Revision der Verwaltungs-
reform, die seit 1877 ins Stocken gekommen war,
und ihre Ausdehnung auf die westlichen Provinzen
(1880/87, hauptsächlich durch Botho v. Eulen-
burg), Beginn der Eisenbahnverstaatlichungen
(1879, durch Maybach) und Kanalbauten. 26. April
1886 kam das Gesetz über Beförderung deutscher
Ansiedlungen in Posen und Westpreußen zustande:
es wurden 100 Mill. M für die Kolonisation der
Ostmarken bewilligt und durch Verordnung vom
Preußen.
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21. Juni 1886 eine Ansiedlungskommission ein-
gesetzt. Durch Verordnung vom 1. Okt. 1887
wurde der polnische Unterricht in den Volksschulen
abgeschafft (hinsichtlich des Religionsunterrichts
wieder eingeschränkt).
Kaiser Wilhelm I. starb am 9. März 1888.
Nach der kurzen Regierung Friedrichs III. folgte
am 15. Juni 1888 Wilhelm II., unter dem
durch Gesetz vom 18. Febr. 1891 Helgoland mit
Preußen vereinigt wurde. Die Landgemeinde-
ordnung für die sieben östlichen Provinzen (vom
3. Juli 1891) gelangte nicht ohne Widerstand der
Konservativen zur Annahme, und Migquel führte
die Steuerreform durch (Einkommensteuergesetz
vom 24. Juni 1891); das Rentengütergesetz
(27. Juni 1890) und die Einführung des An-
erbenrechts waren als sozialpolitische und wirt-
schaftliche Maßregeln gedacht. Das Zedlitzsche
Volksschulgesetz, das den Wünschen der Konser-
vativen und des Zentrums entgegenkam, rief eine
tief gehende Bewegung im Land hervor, wurde
aber auf Befehl des Königs 1892 zurückgezogen.
Die günstige Finanzlage erlaubte seit 1896 die
Umwandlung der 4 /zigen Staatspapiere in
3½ m%-ige, die Durchführung der Gehalts-
erhöhung der Beamten und die Vergrößerung der
Etats in den einzelnen Verwaltungen. In den
folgenden Jahren stand die innere Politik unter
dem Einfluß wirtschaftlicher Fragen: den Mittel-
punkt der Landtagsverhandlungen bildeten De-
batten über die Not der Landwirtschaft und Kanal-
vorlagen; der Mittellandkanal wurde am 19. Aug.
1899 abgelehnt und die im nächsten Jahr wieder-
holte Forderung schließlich von der Regierung
zurückgezogen. In beschränktem Umfang wurde
die Kanalvorlage am 1. Aug. 1905 angenommen.
Mehr und mehr trat die Polenfrage in den Vorder-
grund der innern Politik. Während man den
Polen unter Caprivi entgegengekommen war,
wurden jetzt die Zügel wieder schärfer angezogen.
Ein Erlaß vom 12. April 1898 erinnerte die Be-
amten und Lehrer im Osten an ihr deutsches Na-
tional- und preußisches Staatsbewußtsein. Der
Fonds der Ansiedlungskommission für die Pro-
vinzen Posen und Westpreußen wurde 20. April
1898 um weitere 100 und 1. Juli 1902 nach
heftigen Auseinandersetzungen um 250 Mill. M
erhöht. Die Novelle zum Ansiedlungsgesetz vom
10. Aug. 1904 machte, um dem Anwachsen des
polnischen Kleingrundbesitzes Einhalt zu tun, Neu-
bauten auf parzellierten Gebieten im Bereich der
Ansiedlungskommission von deren Genehmigung
abhängig. Durch das Gesetz vom 20. März 1908
wurde der Fonds der Ansiedlungskommission aber-
mals um 200 Mill. erhöht und ihr zugleich das
Enteignungsrecht in räumlich (auf 70 000 ha)
und rechtlich beschränktem Umfang verliehen, wo-
von aber bisher kein Gebrauch gemacht wurde.
Durch das Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908
wurde die polnische Sprache nur noch auf 20 Jahre
in Bezirken mit über 60 polnischer Bevölkerung