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in öffentlichen Versammlungen zugelassen. Auch
wurden Schule (1904 Akademie in Posen er-
öffnet) und Beamtenschaft immer mehr in den
Dienst der Ostmarkenpolitik gestellt. Die Tätig-
keit der Ansiedlungskommission hat bisher mit der
Einkreisung polnischer Städte mit deutschen Dör-
fern einige Erfolge erzielt; der prozentuell stärkere
Nachwuchs der polnischen Bevölkerung und der
auf polnische Arbeiter angewiesene Latifunoien=
besitz sind jedoch kaum zu überwindende Hinder-
nisse. — Zur brennenden Frage wurde in den
letzten Jahren die Reform des Wahlrechts, die
schon lange vom Zentrum und der Linken gefor-
dert wird und durch die Blockpolitik im Reich,
welche die Regierung zum Entgegenkommen gegen
die Liberalen zwang, in Fluß kam. Die Un-
gerechtigkeit der Wahlkreiseinteilung war durch
das Gesetz vom 28. Juni 1906, das in Berlin
und Umgegend, dem schlesischen und rheinisch-
westfälischen Industriegebiet zehn neue Wahlkreise
schuf, etwas gemildert worden. Die Folge davon
war, daß bei den Wahlen 1908 erstmals sieben
Sozialdemokraten, fast alle in Berlin, gewählt wur-
den. Der im Febr. 1910 eingebrachte Regierungs-
entwurf sah die direkte Wahl (neben Beibehaltung
der öffentlichen) vor, ferner eine Anrechnung der
Steuer für die Klasseneinteilung nur bis zu 5000 M
(„Maximierung") und ein umfangreiches Privi-
legierungssystem, wonach Bildung, Bekleidung
von öffentlichen und Ehrenämtern usw. zum Auf-
rücken in die zweite und eventuell in die erste Klasse
berechtigen, also der plutokratische Charakter des
Wahlrechts gemildert werden sollte. An die Stelle
des Entwurfs trat im Abgeordnetenhaus ein Kom-
promiß zwischen Konservativen und Zentrum, das
sich in der Tendenz mit dem Entwurf deckte, aber
an Stelle der direkten Wahl die geheime zugestand
und die Privilegierung auf den zwölfjährigen
Besitz des Reifezeugnisses beschränkte. Die so ver-
änderte Vorlage wurde am 16. März und 12. April
im Abgeordnetenhaus angenommen, scheiterte aber,
als das Herrenhaus, um den Nationalliberalen
entgegenzukommen, die Drittelungsbezirke für die
Urwahlen vergrößerte und die Maximierung der
Steuer beschränkte und damit die Vorlage in pluto-
kratischem Sinn änderte, bei der Schlußabstim-
mung im Abgeordnetenhaus am 28. Mai. —
Die übrigen wichtigsten Gesetze der letzten Jahre
sind die durch den Bergarbeiterstreik veranlaßte
Berggesetznovelle vom 14. Juli 1905, die Ande-
rung der Steuergesetze 1906, das Volksschulunter-
haltungsgesetz vom 28. Juli 1906, das am Prinzip
der Konfessionsschule festhielt, und die Besserstel-
lung der Beamten und Lehrer 1909.
II. Fläche, Bevölkerung, Erwerbsverhält-
nisse. Das Königreich Preußen hat einen Flächen-
inhalt von 348 657,9 qkm (ohne die Gewässer
der Ost= und Nordsee = 4154,2 qkm) mit
(1905) 37293 324 Einwohnern, 106,9 (1871:
70,8) auf 1 qkm. Die Volkszahl, welche 1816:
13 709000, 1855: 21 320 000, 1895:
Preußen.
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31855 123 und 1900:34472509 Seelen betrug,
ist von 1816 bis 1855 jährlich im Durchschnitt
um 1,14, von 1855/1900 um 1,07, von 1900
bis 1905 um 1,58 % gestiegen. Mit Ausnahme
von Ostpreußen, wo die Bevölkerung zurückgeht,
weisen sämtliche Provinzen eine Vermehrung auf:
die stärkste Westfalen und Rheinland, die schwächste
Pommern (3, 84), Posen (3,25) und Hohenzollern
(1,57). Über Fläche, Bevölkerung und Verwal-
tungsbezirke der Provinzen und Regierungsbezirke
unterrichtet die Tabelle auf Sp. 313/314.
Von den Provinzen sind überwiegend katho-
lisch Westpreußen, Posen, Schlesien, Westfalen,
Rheinland und Hohenzollern, die andern Pro-
vinzen sind überwiegend evangelisch. Sehr schwach
ist die katholische Majorität in Westfalen und
Westpreußen, stärker in Schlesien, in Posen, im
Rheinland (69,48 %/%) und am stärksten in Hohen-
zollern. Etwas über ¼ der Gesamtbevölkerung
macht der katholische Anteil in Hessen-Nassau aus,
ungefähr ⅛ in Ostpreußen und Hannover, un-
gefähr ½ in Berlin. Alle die genannten Pro-
vinzen mit Ausnahme von Berlin bestehen zum
Teil aus ehemals katholischen Territorien, wo-
durch sich der mehr oder minder beträchtliche An-
teil der katholischen Bevölkerung erklärt. Das
gleiche gilt auch von der Provinz Sachsen, die den
größten Teil des ehemals kurmainzischen Eichsfel-
des umschließt. Am niedrigsten ist der Anteil der
Katholiken in Schleswig-Holstein und Pommern.
Konfessionell einheitlicher gestaltet als die Provinzen
ist eine beträchtliche Anzahl der 37 Regierungsbe-
zirke. Von diesen 13 (Gumbinnen, Potsdam,
Frankfurt, Stettin, Köslin, Stralsund, Magde-
burg, Merseburg, Schleswig, Hannover, Lüneburg,
Stade, Aurich) zu mehr als 9/109 evangelisch, 3
(Oppeln, Aachen, Sigmaringen) zu mehr als /%
katholisch, von den übrigen sind außer Berlin noch
4 (Königsberg, Liegnitz, Hildesheim, Kassel) zu
mehr als 80 % evangelisch, 2 (Münster, Köln)
zu mehr als 80% und 1 (Trier) beinahe zu 80%
katholisch. In 17 Bezirken überwiegt also die
evangelische, in 7 die katholische Konfession. Die
übrigen 13 Regierungsbezirke sind als konfessionell
stark gemischt zu bezeichnen. Eine katholische
Majorität haben davon noch Posen, Bromberg,
Marienwerder, Osnabrück, Koblenz und Düssel-
dorf, so daß also im ganzen in 13 Regierungsbe-
zirken die Majorität katholisch, in 24 evangelisch
ist. Im Regierungsbezirk Danzig halten sich die
beiden Konfessionen beinahe die Wage.
Auf die städtische Bevölkerung (Gemeinden über
2000 Einw.) entfielen 1905;: 58,7% (1871:
36,1 % ), auf die ländliche Bevölkerung 41,3%
(1871: 63,9%) der gesamten Bevölkerung.
Einen Einblick in die Verschiebung der Bevöl-
kerung vom Land nach der Stadt und das An-
wachsen der Großstädte (Städte über 100 000
Einwohner) gibt die zweite Tabelle auf Sp. 315.
In den Großstädten ist das katholische Element
weit schwächer vertreten als in der Gesamtmon-