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19. Jahrh. den Gegenstand zahlloser Erörterungen,
Vereinbarungen und einseitiger Festsetzungen bil-
deten, fanden folgende verschiedene Lösungen,
und zwar die erste Frage: a) Neutrales Gut auf
feindlichem Schiff ist der Wegnahme unterworfen
(„Unfrei Schiff — unfrei Gut“) und b) dasselbe
ist der Wegnahme nicht unterworfen („Unfrei
Schiff — frei Gut“), und die zweite Frage:
a) Feindliches Gut auf neutralem Schiff ist der
Wegnahme unterworfen („Frei Schiff — unfrei
Gut“), b) dasselbe ist der Wegnahme nicht unter-
worfen („Frei Schiff — frei Gut“) und c) das-
selbe ist samt dem Schiff der Wegnahme unter-
worfen („Unfrei Gut — unfrei Schiff"). Diese
Lösungen haben sich in drei verschiedenen Systemen
der Behandlung von Flagge und Gut entwickelt,
nämlich im System des Consolato del mare, im
französischen System und im System der Pariser
Deklaration. Das älteste dieser Systeme ist das
System des Consolato del mare. Mit diesem
Namen wird die Zusammenstellung der Rechts-
normen bezeichnet, welche von den Mittelmeer-
staaten bereits im 13. oder 14. Jahrh. unter dem
Titel „Gesetze von Barcelona“ beobachtet wurden.
Das Consolato del mare, welches dem Grund-
satz des Buum cuique gemäfß einerseits die Rechte
der Kriegsparteien gegen ihren Feind und ander-
seits die Rechte der Neutralen streng auseinander-
hält, stellt die Regeln auf: 1) Feindliches Gut
auf neutralen Schiffen ist der Wegnahme unter-
worfen („Frei Schiff — unfrei Gut“); 2) neu-
trales Gut auf feindlichen Schiffen ist der Weg-
nahme nicht unterworfen („Unfrei Schiff — frei
Gut“). Diese Regeln fanden die Anerkennung
der Seestaaten weit hinaus über die Grenzen des
ursprünglichen Geltungsgebiets des Consolato del
mare und wurden in einer Reihe von Verträgen
der verschiedensten Staaten ausdrücklich bestätigt.
England hielt an denselben ein halbes Jahrtausend
hindurch fest und brachte dieselben bis in die neueste
Zeit zu praktischer Anwendung. Ungleich weiter
ging das französische System, nach welchem seit
ungefähr 1400 der Grundsatz galt: „Ein feind-
liches Schiff wird mit allen darauf befindlichen,
und zwar auch den neutralen Gütern, konfisziert“,
oder: „Neutrales Gut auf feindlichem Schiff ist
der Wegnahme unterworfen“ („Unfrei Schiff —
unfrei Gut“).
Die mit der Handhabung des Systems des
Consolato del mare sowie mit der Durchfüh-
rung des französischen Systems verbundenen
Schädigungen der neutralen Schiffahrtsinteressen
hatten bereits im 17. Jahrh. dahin geführt, daß
vertragsmäßig feindliches Gut (mit Ausnahme der
Kriegskonterbande) auf neutralen Schiffen nach
der Parömie „Frei Schiff — frei Gut“ für frei
erklärt, dagegen aber das Recht der Konfiskation
neutralen Guts auf feindlichem Schiff nach dem
Spruch „Unfrei Schiff — unfrei Gut“ vorbehalten
wurde. Hierdurch wurde die Beantwortung der
Frage, ob die Konfiskation von Privateigentum
Prise ufw.
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zulässig sei oder nicht, lediglich von der Flagge
abhängig gemacht. Von nachhaltigem Einfluß war
die Anerkennung des Grundsatzes der Freiheit
feindlichen Guts unter neutraler Flagge in den
Vereinbarungen der ersten (1780) und der zweiten
(1800) „bewaffneten Neutralität“. Erst zu Be-
ginn des Krimkriegs (1854/56) zeigte sich auch
England als Bundesgenosse Frankreichs bereit, die
Grundsätze zu befolgen, welche der Kontinent schon
längst als die richtigen anerkannt hatte, nämlich
den Grundsatz, daß die neutrale Flagge das feind-
liche Gut decke („Frei Schiff — frei Gut“), sowie
den Grundsatz, daß neutrales Gut auch unter
Feindesflagge freisei („Unfrei Schiff— frei Gut“),
immer jedoch mit Ausnahme der Kriegskonter-
bande. Diese beiden Grundsätze fanden ihre all-
gemeine Anerkennung auf dem Pariser Kongreß
von 1856, welcher mittels der Seerechtsdeklaration
vom 16. April 1856, der fast sämtliche Staaten
der europäischen Völkerfamilie beigestimmt haben,
in der zweiten und dritten Regel bestimmte: „Die
neutrale Flagge deckt die feindliche Ware mit Aus-
nahme der Kriegskonterbande" (Art. 2); „Die
neutrale Ware mit Ausnahme der Kriegskonter-
bande ist frei unter feindlicher Flagge“ (Art. 3).
Diese Regeln sind in den jüngsten Kriegen immer
beobachtet und außerdem vielfach durch besondere
von den Kriegsparteien bei der Kriegseröffnung
erlassene Proklamationen bekräftigt worden. Zu
den Fällen, in welchen nach heutigem Völkerrecht
die Wegnahme neutralen Privateigentums als
statthaft gilt, gehören insbesondere die Zufuhr
von Kriegskonterbande (s. d. Art. Neutralität,
Bd III) und der Widerstand gegen das Anhalten,
Visitieren, Durchsuchen und die saisie (s. d. Art.
Durchsuchungsrecht, Bd 1) sowie der Blockade-
bruch (s. d. Art. Blockade, Bd 1).
IV. Prisengerichtsbarkeit. Während die
Landbeute, sofern sie überhaupt eine rechtmäßige
ist, schon durch die bloße Besitzergreifung erworben
wird, erfolgt die Ubertragung des Eigentums an
der Prise erst durch das Urteil des zuständigen
Prisengerichts. Die Prisengerichte haben
den Zweck, die Ausübung des Prisenrechts den
Normen des positiven Völkerrechts gemäß zu
regeln. Aus diesem Grund ist jede Kriegspartei,
sofern sie nicht überhaupt auf die Seebeute ver-
zichtet, völkerrechtlich verpflichtet, ihrem Prisen-
verfahren durch Einsetzung von Prisengerichten
den Charakter eines Rechtsverfahrens zu geben.
Als zuständig gilt stets das Prisengericht des
Staats, zu dessen Kriegsmacht der Nehmer ge-
hört. Die Einsetzung von Prisengerichten ist eine
kriegerische Handlung; sie kann daher nur von
einer Kriegspartei erfolgen, und zwar nur auf
ihrem eignen Territorium oder auf Grund be-
sondern Übereinkommens auf dem Gebiet eines
Verbündeten. Die neutralen Staaten sind weder
befugt, Prisengerichte einzusetzen, noch dürfen sie
gestatten, daß eine Kriegspartei auf ihrem neu-
tralen Gebiet durch Konsuln oder Gesandte Prisen-