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„differenzierten Standesbewußtsein“ (Harms).
Die Organisation des Großbetriebs mache einen
differenzierten Beamtenapparat notwendig. Vom
Generaldirektor bis zum jüngsten Zeichner herab
sei in der industriellen Hierarchie eines jeden
Rangstellung genau bestimmt, seine Tätigkeit
scharf umgrenzt und sehr verschieden entlohnt. Hier
gingen nun die Interessen zwischen Vorgesetzten
und Untergebenen wenigstens scheinbar ausein-
ander. Die Verschiedenartigkeit der Tätigkeit, die
verschiedene allgemeine fachliche Bildung, die ver-
schiedene Herkunft tun ein weiteres dazu, um ein
einheitliches Vorgehen der Privatbeamten zu er-
schweren. Wie sehr die Herkunft eine Differenzie-
rung bewirkt, zeigt Alwin Michel in einem Auf-
satz über Handarbeit und Bureauarbeit (Archiv
für Sozialwissenschaft XXVI 744): „Es ist leicht
verständlich“, sagt er, „daß der Sohn eines Schutz-
manns oder eines andern Unterbeamten andere
Anschauungen über die Notwendigkeit der beruf-
lichen Organisationen und über Lohnbewegungen
hat als der Sohn eines organisierten großstädti-
schen Arbeiters. Dann ist die Entlohnung für die
jüngeren Schreiber aus der Klasse des Bürger-
tums langenicht von der Bedeutung, als für die aus
der Klasse der Arbeiterbevölkerung entstammenden.
Während der Schreiber aus der Arbeiterbevölke-
rung unbedingt ein gewisses Kostgeld aufbringen
muß und erst den darüber hinausschießenden Be-
trag für sich verwenden kann, darf der jüngere
Schreiber aus der Bürgerfamilie nicht selten den
gesamten Verdienst für sich verwenden."“
Die einzelnen Kategorien des Privatbeamten-
stands sind nicht gleichzeitig in die soziale Be-
wegung eingetreten. Zuerst waren es wohl die
Handlungsgehilfen, die sich dazu entschlossen,
Verbände zu gründen, um die soziale und wirt-
schaftliche Lage der kaufmännischen Angestellten zu
verbessern. Die Bestrebungen waren nicht ohne
Erfolg. Namentlich die Einwirkung der Organi-
sation auf die Gestaltung des für sie wichtigen
Teils der Rechtsordnung blieb unverkennbar. Viel
später traten die technischen Angestellten in die Be-
wegung ein. Erst seit wenigen Jahren haben sie
sich, namentlich im Bund der technisch-industriellen
Beamten, der zunächst aus ganz kleinen Anfängen
rasch emporwuchs, eine Organisation geschaffen,
die deshalb besondere Beachtung verdient, weil sie
den Gedanken der gewerkschaftlichen Organisation
in klarer Weise für die Privatangestellten zum
Ausdruck bringt. Freilich bestanden auch schon
früher sehr angesehene Organisationen, denen sich
technisch-industrielle Beamte anschließen konnten,
aber diese Vereinigungen sind doch bis jetzt mehr
oder weniger nur Fachverbände und Unterstützungs-
vereine geblieben. Der Verein Deutscher In-
genieure, der Verband Deutscher Elektrotechniker,
der Deutsche Werkmeisterverband und manche
ähnlich gearteten Verbände haben eine Vergangen-
heit hinter sich, auf die sie stolz sein können; aber
sie gaben nicht den Boden ab, der es den Ange-
Privatbeamte.
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stellten ermöglichte, sich gewerkschaftlich zu
betätigen. Die Gründung rein wirtschaftlicher,
auf gewerkschaftlicher Grundlage, d. h. den Arbeit-
nehmerstandpunkt betonender Organisationen ist
erklärlich aus Gründen, die schon oben angedeutet
worden sind. Bahnbrechend für das neue Vor-
gehen der Privatbeamten wird der Bund tech-
nisch-industrieller Beamten. Er entstand im Mai
1904. Der Bund bezweckt ein Zusammenwirken
der technischen Privatbeamten zur Wahrung und
Förderung ihrer sozialen und wirtschaftlichen
Interessen. Dieser Zweck soll erreicht werden durch
Zusammenschluß in einer einheitlichen, straffen
Organisation, durch nachdrückliche Verbreitung
des Verständnisses für sozialwirtschaftliche Fragen,
durch Weckung des Solidaritätsgefühls, durch
Vertretung der Berufsinteressen an allen Orten,
wo eine Wahrung oder Verbesserung der sozialen
wirtschaftlichen Stellung der technisch-industriellen
Beamten erforderlich ist; durch weitgehende Auf-
klärung über die herrschenden Erwerbsverhältnisse,
durch Stellennachweise, durch Stellenlosenversiche-
rung, durch unentgeltlichen Rat in beruflichen
Rechtssachen, durch Rechtsschutz und Patentrat
und endlich durch Einwirkung auf die Gesetz-
gebung im Sinn einer Ausdehnung der Sozial-
politik auf die technischen Angestellten. Der Bund
steht auf dem Boden der heutigen Gesellschafts-
ordnung. Er erkennt die Entwicklung zum Groß-
betrieb als unvermeidlich und wünschenswert an
und nimmt allen politischen Parteien gegenüber
eine vollkommen neutrale Stellung ein. Partei-
politische Bestrebungen sind ausdrücklich von seiner
Tätigkeit ausgeschlossen. Von Jahr zu Jahr scheint
der Gedanke der gewerkschaftlichen Koalition immer
mehr in die Kreise der Privatbeamten einzudringen.
Ein Beweis dafür ist auch die Entstehung des sog.
Steigerverbands. Die Steiger, eine wichtige
Körperschaft im Bergbau, verhandeln mit den
Kameradschaften über das Gedinge, überwachen
die Kohlengewinnung vor Ort und sind für den
ordnungsmäßigen Betrieb unter Tage in erster
Linie verantwortlich. Sie gehen fast alle aus den
Reihen der Bergleute selbst hervor; aus den
jüngeren Bergleuten werden die Tauglichsten aus-
gewählt und in den Bergschulen ausgebildet. Der
Steigerverband, der im Sommer 1907 zuerst an
die Offentlichkeit trat, als er Einspruch erhob gegen
die Maßreglung einiger Verbandsmitglieder, be-
zeichnete in einem Schreiben an den Vorstand des
Vereins für die bergbaulichen Interessen im Ober-
bergamtsbezirk Dortmund als Ziel des Verbands,
„nicht mehr so wehrlos auf Gnade und Ungnade
der Willkür roher Vorgesetzten ausgesetzt zu sein;
unsere Pflicht wollen wir auch um so besser er-
üllen“".
f Diese Andeutungen müssen hier genügen, um
zu zeigen, welcher Art der geistige Umwälzungs=
prozeß ist, der in den Angestelltenorganisationen
vor sich geht. Nicht ohne Einfluß ist das auch auf
die alten Verbände. Sie beschäftigen sich immer
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