Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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drückender Sorgen ein wesentlicher Faktor für die 
Hebung seiner Leistungsfähigkeit ist, das schon 
muß den verständigen Arbeitgeber hinsichtlich des 
Postulats der Pensionsversicherung an die Seite 
seiner Angestellten bringen, ganz abgesehen von 
der moralischen Verpflichtung, daß er die Be- 
amten, die ihm lange Jahre hindurch treu gedient 
haben, in Tagen der Not nicht im Stich läßt. 
Zwar haben zahlreiche große und größte Unter- 
nehmungen es für ihre Pflicht anerkannt, durch 
Schaffung von B 
für ihre Angestellten zu sorgen, aber die private 
Initiative hat hier doch bis jetzt nur sehr wenig 
Befriedigendes zu leisten vermocht. 
Dem Ruf nach einer staatlichen Pensionsver- 
sicherung hat zuerst die österreichische Gesetzgebung 
Folge geleistet. Am 16. Dez. 1906 wurde das 
„Gesetz betr. die Pensionsversicherung der in 
privaten Diensten und einiger in öffentlichen 
Diensten Angestellten“ erlassen, das seit dem 
1. Jan. 1909 in Kraft ist. Gegenstand der Ver- 
sicherungspflicht bildet die Anwartschaft für den 
Versicherten: auf eine Rente im Fall der Er- 
werbsunfähigkeit (Invaliditätsrente §§ 6/10) bzw. 
auf eine Altersrente (5 11); für die Hinterbliebe- 
nen: auf eine Rente für die Witwen (88 12/14), 
auf Erziehungsbeiträge für die Kinder (§§ 15/17) 
und auf eine einmalige Abfertigung der hinter- 
bliebenen Witwen bzw. Kinder (88 18/19). Die 
Durchführung der Versicherung erfolgt im wesent- 
lichen durch die zu diesem Zweck zu errichtende 
Pensionsanstalt (Sitz Wien) und deren Landes- 
stellen. Pensionsanstalt und Landesstellen unter- 
liegen der Aufsicht der Staatsverwaltung; diese 
Aufsicht wird von dem Minister des Innern aus- 
geübt. An festen Prämien sind für jeden Gehalts- 
monat zu entrichten: 
In der 1. Eehalteklasse 600— 900 K) 6 K 
„ „ 900—1200 „ 9 
1200—80 0/) 12, » 
. (1800—2400 rr 18 „ 
„ (2400—3000 „ 24 „ 
»,, » (über 3000 „ 30 , 
Von diesen Prämien fallen in den ersten vier 
Gehaltsklassen dem Dienstgeber ½8, dem Ver- 
sicherten ½, in den höheren je die Hälfte zur Last. 
Übersteigen die zur Prämienbemessung anzurech- 
nenden Jahresbezüge des Versicherten 7200 TN, 
so hat er die Prämien ganz aus eignen Mitteln 
zu bezahlen. Nach 480 zugunsten eines Versicher- 
ten anrechenbaren Beitragsmonaten hört jede 
Prämienzahlung für denselben auf. Natürlich ent- 
sprechen den Prämienklassen ähnlich abgestufte 
Klassen für das Ausmaß der gesetzlichen Leistungen. 
Wenn man in Deutschland hinsichtlich der Lö- 
sung des Problems der Privatbeamtenversicherung, 
auf deren Notwendigkeit im Reichstag bereits im 
Febr. 1901 der Abgeordnete Sittart hinwies, 
hinter Osterreich zurückgeblieben ist, so liegt das 
zum Teil gewiß daran, daß die beteiligten Kreise 
sich unter sich nicht zu einigen vermochten. Die 
  
  
  
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11 
Privatbeamte. 
  
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Angestellten scheiden sich in zwei Hauptgruppen, 
die darum streiten, ob die Versicherung als eine 
besondere Kasseneinrichtung oder durch Ausbau 
des Invalidenversicherungsgesetzes erreicht werden 
soll. Dieser Streit — für die Außenstehenden nur 
ein Kampf um die Formen — berührt tatsächlich 
eimpfindlich tief wurzelnde Gegensätze; die eine 
Gruppe will mehr die Bundesgenossenschaft zwi- 
schen Arbeitern und Angestellten betont wissen, die 
andere legt Wert darauf, daß zwischen den Hand- 
arbeitern und den Kopfarbeitern erhebliche Unter- 
schiede bestehen. 
Eine unterm 11. Juli 1908 dem Reichstag 
vorgelegte Regierungsdenkschrift faßt die bis dahin 
geäußerten Ansichten über die Form der Versiche- 
rung folgendermaßen zusammen: 
a) Erweiterung der Invalidenversicherung durch 
Anfügung neuer Lohnklassen unter gleichzeitiger 
tunlichster Annäherung des Begriffs der Invali- 
dität im § 5, Abs. 4 des Invalidenversicherungs- 
gesetzes an Berufsinvalidität und unter Gewäh- 
rung der Altersrente vom vollendeten 65. Jahre ab. 
b) Befreiung der Privatangestellten von der 
reichsgesetzlichen Invalidenversicherung und Be- 
gründung einer besondern Pensions= und Hinter- 
stalt für Privatangestellte 
unter Einführung der Berufsinvalidität, des Be- 
ginns der Altersrente vom vollendeten 65. Lebens- 
jahr ab und Gewährung eines besondern Reichs- 
zuschusses. 
c) Errichtung einer besondern Pensions= und 
Hinterblieb t mit Beiträgen 
in Höhe von 8% des Einkommens als zusätzliche 
Kasse neben der reichsgesetzlichen Invalidenver- 
sicherung und der demnächst zu erwartenden Hinter- 
bliebenenversicherung unter Einführung der Be- 
rufsinvalidität und der Gewährung der Alters- 
rente vom vollendeten 65. Lebensjahr ab für 
diese Zusatzkasse. 
Absatz a enthält die Stellungnahme der ge- 
werkschaftlichen Organisationen; Absatzp faßt die 
sonst gemachten Vorschläge der Privatbeamten 
zusammen; Absatz c endlich ist der Vorschlag der 
Regierung. 
Für eine Kritik der einzelnen Vorschläge fehlt 
hier der Raum. Der tatsächliche Stand der Frage 
ist zurzeit (August 1910) der, daß es nicht eine ein- 
zige Partei des deutschen Reichstags gibt, die sich 
offen gegen die staatliche Pensions= und Hinter- 
bliebenenversicherung der Privatangestellten aus- 
spricht. Aber die Regierung hat Bedenken. Sie 
ließ im Januar 1910 durch den Staatssekretär Del- 
brück erklären, daß „technische Schwierigkeiten“ 
der baldigen Durchführung dieser Versicherung im 
Weg stehen. Auf welche Weise diese Schwierig- 
keiten am besten umgangen werden könnten, dar- 
über machte die Regierung zunächst keine belang- 
reichen Andeutungen. Neuerdings scheint aber doch 
nach Zeitungsmeldungen eine Lösung des Pro- 
blems in naher Zeit durch Entgegenkommen der 
Regierung zu erwarten zu sein. 
sicher
	        
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