Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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drängte, die dadurch erfolgte wenigstens teilweise 
Aufsaugung der Klein= und Mittelbetriebe durch 
das Großkapital, all diese Momente haben zur 
Entstehung des Proletariats beigetragen. Die 
Existenz desselben ist die unheimliche Kehrseite der 
in technischer Beziehung so glanzvollen kapitali- 
stischen Entwicklung. „Das Dasein dieser kapita- 
listischen Produktionsweise ist die notwendige Be- 
dingung für diejenige Klasse, die Trägerin der 
modernen sozialen Bewegung ist: das Prole- 
tariat... Diese Produktionsweise kann nicht 
anders bestehen, kann sich nicht anders entfalten 
als unter der Bedingung, daß unter dem Befehl 
einzelner sich Scharen besitzloser Arbeiter zusammen- 
schließen; sie hat zur notwendigen Voraussetzung 
ein Auseinanderreißen der ganzen Gesellschaft in 
zwei Klassen, die Inhaber der Produktionsmittel 
und die persönlichen Produktionsfaktoren. Somit 
ist die Existenz des Kapitalismus die notwendige 
Vorbedingung des Proletariats und damit der 
modernen sozialen Bewegung überhaupt“ (Som- 
bart, Sozialismus). Es sind Personen, die sich 
dem kapitalistischen Unternehmer zur Verfügung 
stellen, weil sie nur durch Lohnarbeit ihr Dasein 
fristen können. Es sind entweder Existenzen, die 
ehemals selbständige Produzenten waren, aber als 
solche sich nicht behaupten konnten, oder solche, die 
zwar nicht selbständig produzierten, aber doch ge- 
nügend sustentiert waren, um ohne Lohnarbeit 
leben zu können, besonders Familienglieder, die 
früher im Haushalt beschäftigt waren. Hierzu 
kommt vor allem die Uberschußbevölkerung, d. h. 
solche Personen, die selbständige Produzenten nicht 
werden können. „Eine Überschußbevölkerung bildet 
sich überall dort, wo die Anzahl der Stellen selb- 
ständiger Produzenten aus irgend welchem Grund 
eine der Zuwachsrate der Bevölkerung nicht mehr 
entsprechende Vermehrung erfährt“ (Sombart, 
Der Kapitalismus 1 216). 
Welche Merkmale kennzeichnen nun aber den 
Proletarier?: Wir haben vor uns die befremdende 
Tatsache, daß Grundrente und Zinsfuß eine 
sinkende Tendenz, die Arbeitslöhne hingegen eine 
steigende Tendenz haben, wir haben die Besserung, 
die sich in der Lebensweise der industriellen Ar- 
beiterbevölkerung seit einem halben Jahrhundert 
vollzogen hat, greifbar vor Augen, wir sehen in 
den unteren Schichten des Volks eine wenn auch 
geringe Anteilnahme an den Kulturerrungen- 
schaften, an dem Komfort und Luxus — sind wir 
überhaupt noch berechtigt, von der Existenz eines 
Proletariats im Sinn einer darbenden Arbeiter- 
bevölkerung zu sprechen? 
Wenn man nach den Bedingungen fragt, unter 
welchen das Proletariat lebt, so werden verschie- 
dene Momente namhaft gemacht. Man nennt die 
Eigentumslosigkeit des Industriearbeiters. 
Fürs erste ist derselbe aber gar nicht absolut eigen- 
tumslos: irgend etwas, eine noch so dürftige 
Wohnungseinrichtung nennt er doch vielfach sein. 
Durch das vermögensrechtliche Moment wird der 
Proletariat. 
  
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Begriff des Proletariers keineswegs erschöpft. Der 
Bettelmönch, der auf Eigentum Verzicht geleistet 
hat, ist gewiß kein Proletarier. So wenig wie die 
Besitzlosigkeit, ist die Erwerbslosigkeit, der 
Mangel an Beschäftigung ein hinreichendes Merk- 
mal zur Charakterisierung des Proletariers. Es 
kommt auch in andern Schichten der Bevölkerung 
vor, daß durch irgendwelche ungünstigen Umstände 
eine zeitweilige Erwerbslosigkeit eintritt. Jeder, 
der nicht dauernde, feste Anstellung hat, kann zeit- 
weilig außer Beschäftigung kommen. Dann will 
man das Elend, in dem die Massen dahinleben, 
als die Eigentümlichkeit des modernen Proletariats 
bezeichnen. Auch dieses ist nicht vollständig richtig. 
Gewisse Schichten der arbeitenden Bevölkerung, 
z. B. die Bauhandwerker, verdienen in Zeiten reger 
Bautätigkeit hohe Löhne, die eine mehr als aus- 
kömmliche Lebenshaltung ermöglichen. Mit dem 
Rückgang bzw. Stillstand der Bautätigkeit tritt 
erst das Elend ein. Man darf auch nicht ver- 
gessen, daß das Elend keineswegs eine dem mo- 
dernen Proletariat eigentümliche Erscheinung ist. 
Das Elend trifft man auch außerhalb desselben. 
Der russische Bauer, der irische Pächter schmachtet 
ebenfalls in elender Lage; es muß also ein eigen- 
artiges Elend sein, in dem der moderne Prole- 
tarier lebt, etwa die ungesunden Betriebsstätten, 
in denen derselbe arbeiten muß, die Fabriken, 
Bergwerke mit ihren mannigfachen schädlichen, 
Gesundheit und Sitte gefährdenden Einflüssen. 
Aber das Elend, das ja im Leben des Proletariers 
unleugbar vorhanden ist, kann nicht als die wich- 
tigste Grundbedingung für das Dasein des Pro- 
letariats bezeichnet werden. „Schon viel bezeich- 
nender ist es, daß in dem Augenblick, als breite 
Massen in ihrem Elend sichtbar werden, auf der 
andern Seite, glanzvoll wie ein Zaubermärchen, 
die Million heraufsteigt. Es ist der Gegensatz 
zu der behäbigen Villa, den eleganten Equipagen 
der Reichen, den glänzenden Läden, den üppigen 
Restaurants, an denen vorbei der Arbeiter in seine 
Fabrik, in seine Werkstatt, in sein ödes Stadt- 
viertel geht; der Abstand in der Lage ist es, der 
den Haß in den Massenerzeugt“ (Sombart, Sozia- 
lismus). Aber warum weckt der Glanz ringsum 
den Neid und Haß der Massen? Immer gab es 
Licht und Schatten, Luxus und Armut nebenein- 
ander in der Gesellschaft. Waren ehedem die 
Träger von Glanz und Pracht vornehmlich Fürsten 
und Kirche, so sind es — und dies kommt bei der 
Kennzeichnung der psychologischen Seite des Pro- 
letariats in Betracht — heute diejenigen, von 
denen sich dasselbe wirtschaftlich abhängig fühlt, 
von denen es sich ausgebeutet glaubt. Der Glaube 
der Proletarier, daß all dieser Luxus mit ihrem 
Schweiß geschaffen, daß sie nur durch brutales 
Unrecht von dem Genuß desselben ausgeschlossen 
seien, ist es, der den psychologischen Kontrast von 
Pracht und Elend so ungeheuer steigert und die 
Glut des Hasses in den Massen schürt. Aber auch 
das Elend und der Unterschied im Besitz ist noch
	        
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