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drängte, die dadurch erfolgte wenigstens teilweise
Aufsaugung der Klein= und Mittelbetriebe durch
das Großkapital, all diese Momente haben zur
Entstehung des Proletariats beigetragen. Die
Existenz desselben ist die unheimliche Kehrseite der
in technischer Beziehung so glanzvollen kapitali-
stischen Entwicklung. „Das Dasein dieser kapita-
listischen Produktionsweise ist die notwendige Be-
dingung für diejenige Klasse, die Trägerin der
modernen sozialen Bewegung ist: das Prole-
tariat... Diese Produktionsweise kann nicht
anders bestehen, kann sich nicht anders entfalten
als unter der Bedingung, daß unter dem Befehl
einzelner sich Scharen besitzloser Arbeiter zusammen-
schließen; sie hat zur notwendigen Voraussetzung
ein Auseinanderreißen der ganzen Gesellschaft in
zwei Klassen, die Inhaber der Produktionsmittel
und die persönlichen Produktionsfaktoren. Somit
ist die Existenz des Kapitalismus die notwendige
Vorbedingung des Proletariats und damit der
modernen sozialen Bewegung überhaupt“ (Som-
bart, Sozialismus). Es sind Personen, die sich
dem kapitalistischen Unternehmer zur Verfügung
stellen, weil sie nur durch Lohnarbeit ihr Dasein
fristen können. Es sind entweder Existenzen, die
ehemals selbständige Produzenten waren, aber als
solche sich nicht behaupten konnten, oder solche, die
zwar nicht selbständig produzierten, aber doch ge-
nügend sustentiert waren, um ohne Lohnarbeit
leben zu können, besonders Familienglieder, die
früher im Haushalt beschäftigt waren. Hierzu
kommt vor allem die Uberschußbevölkerung, d. h.
solche Personen, die selbständige Produzenten nicht
werden können. „Eine Überschußbevölkerung bildet
sich überall dort, wo die Anzahl der Stellen selb-
ständiger Produzenten aus irgend welchem Grund
eine der Zuwachsrate der Bevölkerung nicht mehr
entsprechende Vermehrung erfährt“ (Sombart,
Der Kapitalismus 1 216).
Welche Merkmale kennzeichnen nun aber den
Proletarier?: Wir haben vor uns die befremdende
Tatsache, daß Grundrente und Zinsfuß eine
sinkende Tendenz, die Arbeitslöhne hingegen eine
steigende Tendenz haben, wir haben die Besserung,
die sich in der Lebensweise der industriellen Ar-
beiterbevölkerung seit einem halben Jahrhundert
vollzogen hat, greifbar vor Augen, wir sehen in
den unteren Schichten des Volks eine wenn auch
geringe Anteilnahme an den Kulturerrungen-
schaften, an dem Komfort und Luxus — sind wir
überhaupt noch berechtigt, von der Existenz eines
Proletariats im Sinn einer darbenden Arbeiter-
bevölkerung zu sprechen?
Wenn man nach den Bedingungen fragt, unter
welchen das Proletariat lebt, so werden verschie-
dene Momente namhaft gemacht. Man nennt die
Eigentumslosigkeit des Industriearbeiters.
Fürs erste ist derselbe aber gar nicht absolut eigen-
tumslos: irgend etwas, eine noch so dürftige
Wohnungseinrichtung nennt er doch vielfach sein.
Durch das vermögensrechtliche Moment wird der
Proletariat.
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Begriff des Proletariers keineswegs erschöpft. Der
Bettelmönch, der auf Eigentum Verzicht geleistet
hat, ist gewiß kein Proletarier. So wenig wie die
Besitzlosigkeit, ist die Erwerbslosigkeit, der
Mangel an Beschäftigung ein hinreichendes Merk-
mal zur Charakterisierung des Proletariers. Es
kommt auch in andern Schichten der Bevölkerung
vor, daß durch irgendwelche ungünstigen Umstände
eine zeitweilige Erwerbslosigkeit eintritt. Jeder,
der nicht dauernde, feste Anstellung hat, kann zeit-
weilig außer Beschäftigung kommen. Dann will
man das Elend, in dem die Massen dahinleben,
als die Eigentümlichkeit des modernen Proletariats
bezeichnen. Auch dieses ist nicht vollständig richtig.
Gewisse Schichten der arbeitenden Bevölkerung,
z. B. die Bauhandwerker, verdienen in Zeiten reger
Bautätigkeit hohe Löhne, die eine mehr als aus-
kömmliche Lebenshaltung ermöglichen. Mit dem
Rückgang bzw. Stillstand der Bautätigkeit tritt
erst das Elend ein. Man darf auch nicht ver-
gessen, daß das Elend keineswegs eine dem mo-
dernen Proletariat eigentümliche Erscheinung ist.
Das Elend trifft man auch außerhalb desselben.
Der russische Bauer, der irische Pächter schmachtet
ebenfalls in elender Lage; es muß also ein eigen-
artiges Elend sein, in dem der moderne Prole-
tarier lebt, etwa die ungesunden Betriebsstätten,
in denen derselbe arbeiten muß, die Fabriken,
Bergwerke mit ihren mannigfachen schädlichen,
Gesundheit und Sitte gefährdenden Einflüssen.
Aber das Elend, das ja im Leben des Proletariers
unleugbar vorhanden ist, kann nicht als die wich-
tigste Grundbedingung für das Dasein des Pro-
letariats bezeichnet werden. „Schon viel bezeich-
nender ist es, daß in dem Augenblick, als breite
Massen in ihrem Elend sichtbar werden, auf der
andern Seite, glanzvoll wie ein Zaubermärchen,
die Million heraufsteigt. Es ist der Gegensatz
zu der behäbigen Villa, den eleganten Equipagen
der Reichen, den glänzenden Läden, den üppigen
Restaurants, an denen vorbei der Arbeiter in seine
Fabrik, in seine Werkstatt, in sein ödes Stadt-
viertel geht; der Abstand in der Lage ist es, der
den Haß in den Massenerzeugt“ (Sombart, Sozia-
lismus). Aber warum weckt der Glanz ringsum
den Neid und Haß der Massen? Immer gab es
Licht und Schatten, Luxus und Armut nebenein-
ander in der Gesellschaft. Waren ehedem die
Träger von Glanz und Pracht vornehmlich Fürsten
und Kirche, so sind es — und dies kommt bei der
Kennzeichnung der psychologischen Seite des Pro-
letariats in Betracht — heute diejenigen, von
denen sich dasselbe wirtschaftlich abhängig fühlt,
von denen es sich ausgebeutet glaubt. Der Glaube
der Proletarier, daß all dieser Luxus mit ihrem
Schweiß geschaffen, daß sie nur durch brutales
Unrecht von dem Genuß desselben ausgeschlossen
seien, ist es, der den psychologischen Kontrast von
Pracht und Elend so ungeheuer steigert und die
Glut des Hasses in den Massen schürt. Aber auch
das Elend und der Unterschied im Besitz ist noch