Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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keineswegs genügend, um die Eigenart des Pro- 
letariats zu bestimmen. Die furchtbarste Geißel, 
die über den Köpfen der Proletarier geschwungen 
wird, ist die Unsicherheit der Existenz. 
In gewissem Sinn ist auch diese keineswegs ein 
Unterscheidungsmerkmal des Proletariats. Der 
Bauersmann, dessen Existenz von der glücklichen 
Bergung der auf dem Feld heranreifenden Ernte 
abhängt, ist in der Sicherheit der Lebenshaltung 
von jedem Gewitter bedroht, das am Himmel auf- 
steigt. „Der Japaner schreckt vor dem Erdbeben, 
das jeden Augenblick ihn und seine Habe ver- 
schlingen kann; der Kirgise zittert vor dem Sand- 
sturm im Sommer, dem Schneesturm im Winter, 
der die Futterplätze seiner Tiere vernichtet; eine 
Überschwemmung, eine Dürre in Rußland kann 
den Bauer seiner Ernte berauben, ihn dem Hunger- 
tod preisgeben“ (Sombart a. a. O.). Der Unter- 
schied zwischen dieser Existenzunsicherheit und der 
des Proletariers liegt darin, daß die erste eine 
Folge der natürlichen Elemente, letztere eine Folge 
bestimmter Organisationsformen des wirtschaft- 
lichen Lebens ist. Das hat eine Verschärfung der 
Abneigung gegen die Träger der Macht zur 
Folge. Das ist die letzte Wurzel, aus der 
die Kampfesstimmung des Proletariats, NReid, 
Haß, Empörung, hervorgeht: das Elend, das 
durch den Gegensatz gegen den Glanz und Luxus 
der besitzenden Klassen verschärft wird, wird 
aufgefaßt als Unrecht, das den Lohnarbei- 
tern von den Besitzern des Kapitals zugefügt 
wird. Der Proletarier empfindet sich als den 
Ausgestoßenen und Mißhandelten; er glaubt, 
die herrschenden Rechtsformen seien nur ebenso 
viele Mittel, um ihn zu knebeln, niederzuhalten 
und auszubeuten. 
Der Ausbildung der dem Proletariat eigen- 
tümlichen Ideenkreise dient nun aber als besonders 
förderndes Moment die Organisation des kapita- 
listischen Wirtschaftsbetriebs. Der herrschende 
Großbetrieb bedingt eine Zusammenziehung großer 
Menschenmassen in den Mittelpunkten des in- 
dustriellen Lebens. Aus den verschiedensten Ge- 
genden des Landes werden die Menschen als eine 
große ungegliederte Masse an einem Punkt kon- 
zentriert. Dies „bedeutet einen vollständigen Bruch 
mit der Vergangenheit, ein Zerreißen aller Be- 
ziehungen zu der Heimat, zu dem Dorf, zu der 
Familie, zu den Sitten, bedeutet damit die Zer- 
trümmerung aller früheren Ideale in dieser heimat-, 
besitz= und zusammenhanglosen Masse. Es ist dies 
ein Moment, welches häufig unterschätzt wird. Man 
vergißt, daß es ein ganz neues Leben ist, das 
die modernen proletarischen Haufen zu beginnen 
haben“ (Sombart). In der Eigenart dieses Lebens 
finden sich denn auch die Momente gegeben, die 
den Aufbau der proletarischen Gedanken- 
welt erklären. Das sozialistische Ideal gemein- 
samen Lebens und Wirtschaftens erwächst wie 
von selbst aus der Konzentration der Arbeiter- 
massen in den Industrieorten und den Arbeiter- 
Proletariat. 
  
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vierteln der Großstädte. In den großen Miets- 
kasernen sind Dutzende von Familien zusammen- 
gedrängt; die Intimität und damit der Reiz des 
Familienlebens schwindet; die Höhe der Miets- 
preise zwingt zur Aufnahme von Schlafburschen 
und Schlafmädchen, und damit lockern sich die 
Bande der Zucht und Sittlichkeit, die verpestenden 
Einflüsse der Wohnungsnot treten zu Tage. Die 
Auflösung des Familienlebens innerhalb des Pro- 
letariats ist eine unleugbare Tatsache, und Paul 
Göhre, der als Augenzeuge die Zustände kennen 
gelernt hat, versichert in seiner Schrift „Drei 
Monate Fabrikarbeiter“ (1900), daß in den in- 
dustriell hoch entwickelten Gebieten Sachsens der 
Zerfall des Familienlebens einen beängstigenden 
Fortschritt aufweise. Wenn man demgegenüber 
darauf hinweist, daß auch in den höheren Schichten 
der Gesellschaft Vorkommnisse sich ereignen, die 
auf eine geminderte Wertschätzung des Familien- 
lebens schließen lassen, so muß doch gesagt werden, 
daß in den Kreisen des Mittelstands das Familien= 
leben sich noch einer hohen Wertschätzung und 
sittlichen Pflege erfreut. Die Verhältnisse liegen 
ja auch hier viel günstiger. Die Heiligkeit der 
Familie ist doch in etwa durch die Mauern der 
Wohnung geschützt, ist nicht so den Blicken der 
Offentlichkeit preisgegeben, Bildung und Behag- 
lichkeit verbreiten ihren Glanz über die Häuslich- 
keit und verleihen ihr Wert. Beim Proletariat 
findet sich nichts von dem. Die Familie ist selten 
vollzählig beisammen, und wenn sie sich auch 
zusammenfindet, ist sie nicht allein, der fremde 
Schlasgänger drängt sich störend ein, und dadurch 
erfahren die Familienbande, auch wenn keine wei- 
teren sittlichen Mißstände damit verknüpft wären, 
eine arge Lockerung. 
Da die sittliche Wertschätzung des Familien- 
lebens gesunken ist, fehlt auch das Bewußtsein der 
daraus erwachsenden Pflichten. Daher ist ein 
Merkmal des Proletariats die absolute Sorglosig- 
keit in der Eheschließung und Kindererzeugung. 
Gegen den Leichtsinn in der Familiengründung 
ist auch eine gesetzliche Heiratserschwerung kein 
wirksames Palliativ. Roscher weist mit Recht 
darauf hin, daß da, wo Stände und Korporationen 
mit wahrer Selbständigkeit bestanden, deren Mit- 
glieder Wert auf ihre Genossenschaft legten, die 
Sache sich ganz von selbst machte: der Geselle 
wartet freiwillig mit dem Heiraten, bis er Meister 
geworden. Ganz anders geschieht es bei einem 
zahlreichen Proletariat, wo jener Geist der Standes- 
ehre fehlt (Grundlagen der Nationalökonomie? 
745 f). Die Hauptsache liegt aber für die bürger- 
liche Gesellschaft nicht darin, daß möglichst viele — 
wie die Gegner jedes Zölibats wollen —, sondern 
daß möglichst gute, sittlich fundierte Ehen ge- 
schlossen werden; die Kraft eines Volks liegt nicht 
in der absolut hohen Bevölkerungsziffer, sondern 
in der Bürgertugend, im sittlichen Mark. (Hier- 
über ausführlich Ad. Wagner, Agrar= und In- 
dustriestaat, 1902.)
	        
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