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keineswegs genügend, um die Eigenart des Pro-
letariats zu bestimmen. Die furchtbarste Geißel,
die über den Köpfen der Proletarier geschwungen
wird, ist die Unsicherheit der Existenz.
In gewissem Sinn ist auch diese keineswegs ein
Unterscheidungsmerkmal des Proletariats. Der
Bauersmann, dessen Existenz von der glücklichen
Bergung der auf dem Feld heranreifenden Ernte
abhängt, ist in der Sicherheit der Lebenshaltung
von jedem Gewitter bedroht, das am Himmel auf-
steigt. „Der Japaner schreckt vor dem Erdbeben,
das jeden Augenblick ihn und seine Habe ver-
schlingen kann; der Kirgise zittert vor dem Sand-
sturm im Sommer, dem Schneesturm im Winter,
der die Futterplätze seiner Tiere vernichtet; eine
Überschwemmung, eine Dürre in Rußland kann
den Bauer seiner Ernte berauben, ihn dem Hunger-
tod preisgeben“ (Sombart a. a. O.). Der Unter-
schied zwischen dieser Existenzunsicherheit und der
des Proletariers liegt darin, daß die erste eine
Folge der natürlichen Elemente, letztere eine Folge
bestimmter Organisationsformen des wirtschaft-
lichen Lebens ist. Das hat eine Verschärfung der
Abneigung gegen die Träger der Macht zur
Folge. Das ist die letzte Wurzel, aus der
die Kampfesstimmung des Proletariats, NReid,
Haß, Empörung, hervorgeht: das Elend, das
durch den Gegensatz gegen den Glanz und Luxus
der besitzenden Klassen verschärft wird, wird
aufgefaßt als Unrecht, das den Lohnarbei-
tern von den Besitzern des Kapitals zugefügt
wird. Der Proletarier empfindet sich als den
Ausgestoßenen und Mißhandelten; er glaubt,
die herrschenden Rechtsformen seien nur ebenso
viele Mittel, um ihn zu knebeln, niederzuhalten
und auszubeuten.
Der Ausbildung der dem Proletariat eigen-
tümlichen Ideenkreise dient nun aber als besonders
förderndes Moment die Organisation des kapita-
listischen Wirtschaftsbetriebs. Der herrschende
Großbetrieb bedingt eine Zusammenziehung großer
Menschenmassen in den Mittelpunkten des in-
dustriellen Lebens. Aus den verschiedensten Ge-
genden des Landes werden die Menschen als eine
große ungegliederte Masse an einem Punkt kon-
zentriert. Dies „bedeutet einen vollständigen Bruch
mit der Vergangenheit, ein Zerreißen aller Be-
ziehungen zu der Heimat, zu dem Dorf, zu der
Familie, zu den Sitten, bedeutet damit die Zer-
trümmerung aller früheren Ideale in dieser heimat-,
besitz= und zusammenhanglosen Masse. Es ist dies
ein Moment, welches häufig unterschätzt wird. Man
vergißt, daß es ein ganz neues Leben ist, das
die modernen proletarischen Haufen zu beginnen
haben“ (Sombart). In der Eigenart dieses Lebens
finden sich denn auch die Momente gegeben, die
den Aufbau der proletarischen Gedanken-
welt erklären. Das sozialistische Ideal gemein-
samen Lebens und Wirtschaftens erwächst wie
von selbst aus der Konzentration der Arbeiter-
massen in den Industrieorten und den Arbeiter-
Proletariat.
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vierteln der Großstädte. In den großen Miets-
kasernen sind Dutzende von Familien zusammen-
gedrängt; die Intimität und damit der Reiz des
Familienlebens schwindet; die Höhe der Miets-
preise zwingt zur Aufnahme von Schlafburschen
und Schlafmädchen, und damit lockern sich die
Bande der Zucht und Sittlichkeit, die verpestenden
Einflüsse der Wohnungsnot treten zu Tage. Die
Auflösung des Familienlebens innerhalb des Pro-
letariats ist eine unleugbare Tatsache, und Paul
Göhre, der als Augenzeuge die Zustände kennen
gelernt hat, versichert in seiner Schrift „Drei
Monate Fabrikarbeiter“ (1900), daß in den in-
dustriell hoch entwickelten Gebieten Sachsens der
Zerfall des Familienlebens einen beängstigenden
Fortschritt aufweise. Wenn man demgegenüber
darauf hinweist, daß auch in den höheren Schichten
der Gesellschaft Vorkommnisse sich ereignen, die
auf eine geminderte Wertschätzung des Familien-
lebens schließen lassen, so muß doch gesagt werden,
daß in den Kreisen des Mittelstands das Familien=
leben sich noch einer hohen Wertschätzung und
sittlichen Pflege erfreut. Die Verhältnisse liegen
ja auch hier viel günstiger. Die Heiligkeit der
Familie ist doch in etwa durch die Mauern der
Wohnung geschützt, ist nicht so den Blicken der
Offentlichkeit preisgegeben, Bildung und Behag-
lichkeit verbreiten ihren Glanz über die Häuslich-
keit und verleihen ihr Wert. Beim Proletariat
findet sich nichts von dem. Die Familie ist selten
vollzählig beisammen, und wenn sie sich auch
zusammenfindet, ist sie nicht allein, der fremde
Schlasgänger drängt sich störend ein, und dadurch
erfahren die Familienbande, auch wenn keine wei-
teren sittlichen Mißstände damit verknüpft wären,
eine arge Lockerung.
Da die sittliche Wertschätzung des Familien-
lebens gesunken ist, fehlt auch das Bewußtsein der
daraus erwachsenden Pflichten. Daher ist ein
Merkmal des Proletariats die absolute Sorglosig-
keit in der Eheschließung und Kindererzeugung.
Gegen den Leichtsinn in der Familiengründung
ist auch eine gesetzliche Heiratserschwerung kein
wirksames Palliativ. Roscher weist mit Recht
darauf hin, daß da, wo Stände und Korporationen
mit wahrer Selbständigkeit bestanden, deren Mit-
glieder Wert auf ihre Genossenschaft legten, die
Sache sich ganz von selbst machte: der Geselle
wartet freiwillig mit dem Heiraten, bis er Meister
geworden. Ganz anders geschieht es bei einem
zahlreichen Proletariat, wo jener Geist der Standes-
ehre fehlt (Grundlagen der Nationalökonomie?
745 f). Die Hauptsache liegt aber für die bürger-
liche Gesellschaft nicht darin, daß möglichst viele —
wie die Gegner jedes Zölibats wollen —, sondern
daß möglichst gute, sittlich fundierte Ehen ge-
schlossen werden; die Kraft eines Volks liegt nicht
in der absolut hohen Bevölkerungsziffer, sondern
in der Bürgertugend, im sittlichen Mark. (Hier-
über ausführlich Ad. Wagner, Agrar= und In-
dustriestaat, 1902.)