Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

371 
Aber auch die Organisation des industriellen 
Lebens ist der Ausbildung kommunistischer Ideale 
im Proletariat günstig. Die gewaltigen Fabriken 
mit ihrer weitgehenden Arbeitsteilung und straffen 
Zentralisation sind in mancher Beziehung ein 
Miniaturbild der Vergesellschaftung der Produk- 
tionsmittel im großen. In den Massenversamm- 
lungen und in den großen Vergnügungslokalen 
der Großstadt finden sich die einzelnen von Gott 
und Weltverlassenen Proletarier mit ihren Leidens- 
gefährten zusammen, die gleiche Not und derselbe 
Haß gegen die besitzenden Klassen schlingen ein 
festes Band um sie; die gleichen Leiden, von denen 
sie sich gedrückt fühlen, die gleichen Ideale, von 
denen sie ihre Emanzipation erwarten, kurz die 
Gleichheit der Interessen schmiedet die Klasse des 
Proletariats zu einem festgeschlossenen Ganzen zu- 
sammen. Je reizloser das Leben für den einzelnen 
verläuft, je weniger Anziehungskraft die Familie 
und die öde, kahle Wohnung mehr auszuüben im- 
stande ist, desto größere Bedeutung gewinnen die 
Sammelpunkte, in denen sich der Vereinsamte 
mit seinesgleichen zusammenfindet. „Das Indi- 
viduum verschwindet, der Genosse entsteht. Ein- 
heitliches Klassenbewußtsein bildet sich aus und 
die Gewöhnung an kommunistische Arbeit und 
kommunistischen Genuß“" (Sombart). 
Man denke sich nun diese Arbeitermassen, die 
in der Dumpbheit einer kümmerlichen Existenz 
dahinleben, die noch dazu den Einflüssen der 
anarchistischen Propaganda und der sozialdemo- 
kratischen Agitation preisgegeben sind, und man 
wird begreifen, welch eine Gefahr das Proletariat 
für den Bestand und das Gedeihen der Gesellschaft 
bedeutet. Bei dem unheimlichen Wachstum, mit 
dem sich infolge des Zugs vom Land in die Stadt 
unsere Großstädte erweitern, hält vielfach die Ent- 
wicklung der Seelsorge nicht mehr gleichen Schritt; 
die Kirchennot an den Peripherien der Städte ist 
ein sprechender Beweis dafür, daß die Seelsorge 
Tausende von Menschen, die mit Gott und der 
Welt zerfallen sind, nicht mehr zu erreichen ver- 
mag. Die sozialistische Aufreizung findet nicht 
überall in dem kirchlichen Einfluß ein heilsames 
Gegengewicht. 
Das Proletariat ist somit der Träger des revo- 
lutionären Gedankens und steht insofern in direktem 
Gegensatz zum Bauernstand, der als die konser- 
vativste Gruppe der Bevölkerung angesehen werden 
muß. Man hat schon gesagt, der Bauer sei in der 
Regel „viel schlauer und heimtückischer, viel roher 
und zugleich viel berechnender, viel nüchterner, 
viel kleinlicher als der Proletarier, er hat zumeist 
keinen Idealismus, der Drang ins Große, Freie, 
Volle, der so häufig sich selbst im entarteten Prole- 
tariergehirn zeigt, fehlt hier fast überall“ (Weisen- 
grün a. a. O. 452). Mag dem sein wie immer, 
wir finden auch beim Proletariat Züge der Ent- 
artung. Geschichtlich hat sich der Bauernstand 
noch nie als eine soziale Gefahr erwiesen, wohl 
aber das unzufriedene Proletariat. 
Proletariat. 
  
372 
2. Ländliches und intellektuelles 
Proletariat. Es wäre jedoch ein Irrtum, 
anzunehmen, daß nur aus den Arbeitern, die im 
Dienst der Industrie stehen, sich die Scharen des 
Proletariats rekrutieren. Es gibt auch ein länd- 
liches und ein intellektuelles Proletariat. Ersteres 
findet sich da, wo der Großgrundbesitz die selb- 
ständigen Bauern aufgesogen und zu Lohnarbeitern 
degradiert hat. England, Irland, der deutsche 
Osten beherbergen ein solches Proletariat. Wie 
die industrielle, ist auch die ländliche Arbeiterfrage 
durch den Großbetrieb verursacht. Wo selbständige 
kleine und mittlere Betriebe in der Mehrzahl sind, 
wie im Westen und Süden Deutschlands und in 
Frankreich, dort gibt es auch keine zahlreiche länd- 
liche Arbeiterklasse. Ja selbst in den Gebieten der 
großbäuerlichen Hof= und der mittleren Ritter- 
güter ist es zur Ansammlung eines beträchtlichen 
Arbeiterproletariats noch nicht gekommen (West- 
falen, Hannover). „Die Landarbeiterfrage gewinnt 
erst dann eine der gewerblichen Arbeiterfrage ähn- 
liche verhängnisvolle Bedeutung, wenn ein besitz- 
loses Landproletariat großen Grund= und Lati- 
sundienbesitzern gegenübersteht, ohne daß sich ein 
breiter bäuerlicher Mittelstand zwischen diese Ex- 
treme einschiebt, wenn die Landarbeiter, rechtlich 
oder tatsächlich, ein freies Gemeindeleben nicht 
genießen. Diese Voraussetzungen treffen im all- 
gemeinen in Großbritannien und in den ostelbischen 
Gebieten vorherrschenden Großgrundbesitzes mit 
selbständigen Gutsbezirken zu“ (Herkner, Die Ar- 
beiterfrage). Wie beim industriellen, tritt auch 
beim ländlichen Proletariat die Unsicherheit der 
Existenz sehr markant hervor. Wie dort in manchen 
Arbeitszweigen, besonders im Konfektionswesen 
nur während der Saison genügende Arbeits- 
gelegenheit vorhanden ist, während nach Ablauf 
derselben Arbeitsmangel sich einstellt, ist auch im 
Großbetrieb der Landwirtschaft die Saisonarbeit 
aufgekommen. Nur in den Monaten, wo mit 
Hochdruck gearbeitet werden muß, sieht sich der 
Großgrundbesitzer veranlaßt, viele Arbeiter einzu- 
stellen, die nach Erledigung der Erntegeschäfte 
wieder außer Arbeit gesetzt werden. Die Nach- 
frage nach diesen Arbeitskräften wird durch Saison- 
(Wanderarbeiter gedeckt, insbesondere aus Ge- 
bieten mit niedriger Lebenshaltung (Sachsen- 
gängerei). Dadurch werden die Arbeitsverhältnisse 
auf dem Land überhaupt verschlechtert und der 
Strom der Landbevölkerung in die Städte und 
Fabriken noch gesteigert. Dies bedeutet wieder 
eine Verstärkung des industriellen Proletariats. 
(Nähere Ausführungen über die ländliche Arbeiter- 
frage, über die sittlichen und sozialpolitischen 
Folgen der Sachsengängerei, die Lebenshaltung 
des ländlichen Proletariats s. Herkner a. a. O.) 
Eine besondere Nachtseite des Geisteslebens in 
der kapitalistischen Ara ist die Uberproduktion an 
Existenzen, die ihrer Bildung nach den höheren 
Ständen zuzurechnen wären, aber infolge Mangels 
an ausreichenden Hilfsmitteln, mangelnder Be-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.