Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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schäftigung in wirtschaftlicher Hinsicht auf die 
Stufe des Lohnarbeiterproletariats herabgedrückt 
werden. Es besteht in gewisser Beziehung also 
eine „Uberproduktion an Intelligenz“. Diese führt 
zur Bildung eines geistigen (intellektuellen oder 
Bildungs-) Proletariats. Die Tatsache eines 
solchen ist unleugbar, dasselbe ist keineswegs bloß 
eine Erfindung der Sozialisten. Die Hauptursache 
für seine Entstehung liegt in der Überfüllung der 
gelehrten Berufe und der dazu führenden Studien= 
laufbahn. Trotz aller Deklamationen über den 
Wert der Arbeit leidet unsere Zeit doch an einer 
Verachtung des handwerksmäßigen Berufs; es 
besteht eine Scheu, die Kinder ein Handwerk er- 
lernen zu lassen, und wenn es nur einigermaßen 
finanziell möglich ist, sollen die Söhne die Studien- 
laufbahn ergreifen (wo möglich soll die Tochter 
in die höhere Töchterschule oder in das Mädchen- 
gymnasium). „Die Überbürdungsklagen, die sich 
gegen unsere Gymnasien richten, hängen doch 
augenscheinlich auch damit zusammen, daf die ganze 
gute Gesellschaft ihre Knaben ohne viel Rücksicht 
auf ihre Neigung und Begabung durch das Abi- 
turientenexamen durchpeitschen läßt“ (Paulsen, 
System der Ethik II“ 433). 
Die Folgen davon liegen auf der Hand. Ein- 
mal werden eine Masse nicht genügend Begabter 
in eine Laufbahn hineingedrängt, für die sie nicht 
geeignet sind. Ohne ihr Ziel zu erreichen, müssen 
sie halbenwegs die Studien verlassen, und da sie 
kein Handwerk ergreifen wollen und selten eine 
ihrer höheren — oder vermeintlich höheren — 
Bildung entsprechende Lebensstellung finden kön- 
nen, sind sie mit ihrer Lage unzufrieden und ver- 
stärken die Reihen des Proletariats. Die andere 
Folge ist, daß eine Uberfüllung aller geistigen Be- 
rufe und damit eine Stauung eintritt, so daß auch 
diejenigen, die den vorgeschriebenen Gang der 
Studien beendigen, trotz Talent keine Anstellung 
oder gewinnbringende Beschäftigung finden können. 
Schriftsteller und Künstler werden damit den 
Reihen des Proletariats zugeführt. Sie über- 
nehmen meist die geistige Leitung desselben als 
Redakteure, Agitatoren, Schriftsteller und wissen 
natürlich durch die von ihnen zur Schau getragene 
Bildung die Massen zu gewinnen. Vielleicht ist 
die Gefahr, die der Gesellschaft von diesen in ihren 
Hoffnungen betrogenen geistigen Proletariern 
droht, eine größere als die des Lohnarbeiterprole- 
tariats. Nach Bebel wäre Deutschland „das 
klassische Land, das diese Uberproduktion an In- 
telligenz, an Bildung, welche die bürgerliche Welt 
nicht mehr zu verwerten weiß, auf großer Stufen- 
leiter erzeugt“. „Wie mit den Wissenschaften, so 
ging es auch mit den Künsten. Kein Land Euro- 
pas hat im Verhältnis so viele Maler-, Kunst- 
und technische Schulen aller Art, Museen und 
Kunstsammlungen aufzuweisen als Deutschland.“ 
Es „hat wohl mehr als jedes andere Land der 
Welt ein ungemein zahlreiches Gelehrten= und 
Künstlerproletariat, ein starkes Proletariat in den 
Proletariat. 
  
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sog. liberalen Berufen, das sich stetig vermehrt 
und Gärung und Unzufriedenheit mit dem be- 
stehenden Zustand der Dinge bis in die höheren 
Kreise der Gesellschaft trägt“ (Die Frau und der 
Sozialismus). Bebel will wahrnehmen, daß be- 
reits in die stillen Kreise der Gelehrten und 
Künstler die revolutionären Gedanken dringen. 
Der „Bohémien" ist der proletarisierte geistige 
Arbeiter, besonders in den Schriftsteller= und 
Künstlerkreisen. Mit der herrschenden Klasse zer- 
fallen, weil er ihren Anschauungen und ihrem Ge- 
schmack nicht dienen will, schlägt er sich auf die 
Seite des Proletariats, leiht Feder oder Pinsel 
der Verbreitung proletarischer Ideen. 
So kam es, daß sich eine sog. Armeleutliteratur 
und -kunst entwickelte, die gerade aus dem Leben 
und Leiden des Proletariats ihre Gegenstände 
wählte und mehr oder weniger tendenziös den 
sozialen Kontrast zur Darstellung bringt. Die 
Kunst der Dekadenz liebt es, möglichst natura- 
listisch die Armut, den Hunger, den Haß, kurz 
all die Schattenseiten im Leben der Arbeiterwelt 
zur Darstellung zu bringen. 
3. Maßnahmen gegen fortschreitende 
Proletarisierung. Ezs ist einleuchtend, daß 
die Existenz eines großen unzufriedenen Prole- 
tariats eine große Gefahr für die Kulturentwick- 
lung in sich schließt. Das Proletariat steht gleich- 
sam außerhalb des Bodens der heutigen Kultur, 
es fühlt sich von deren Errungenschaften fast 
gänzlich ausgeschlossen, hat darum auch kein Inter- 
esse daran, daß der Fortschritt derselben in ruhiger 
Weise sich vollziehe. Vielfach sieht es gerade durch 
die technischen Errungenschaften seine Existenz be- 
droht. Man weiß, mit welchem Mißtrauen, ja 
mit welcher Feindseligkeit die Arbeiter dem Auf- 
treten der ersten Maschinen in England begegneten. 
Demolierung von Maschinen und Fabriken war 
nichts Seltenes. Aber noch heute macht jeder tech- 
nische Fortschritt wieder eine Anzahl von Händen 
überflüssig. Man denke nur an die Verbesserungen, 
die in den letzten Jahren an den Setzmaschinen 
erzielt worden sind. Grollend, apathisch betrachtet 
der Proletarier all die Herrlichkeiten der Welt, die 
großenteils von seinen Händen erzeugt, für seinen 
Genuß in keiner Weise bestimmt sind. Die Tra- 
gödie der „Enterbten“ hat Sombart meisterhaft in 
seinem „Proletariat“ geschrieben. 
Die besitzenden Klassen scheinen vielfach sich der 
Situation bewußt zu werden; sie fühlen, auf wie 
unsichere Grundlagen die moderne Zivilisation ge- 
stellt itt, wenn sie fortwährend durch einen zu be- 
fürchtenden Ausbruch des Grimms, der sich in 
den unteren Klassen ansammelt, bedroht ist. 
„Immer mehr und mehr ist es auch den vernünf- 
tigen Elementen der führenden Schichten der 
großen Völker Europas zum Bewußtsein gelangt, 
welche verhängnisvolle Rolle das Zwei-Nationen- 
system innerhalb eines großen Volks spielen kann. 
Man möchte gar nicht mehr zwischen sich und dem 
Proletariat eine soziale Kluft schaffen, oder konkret
	        
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