Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

375 
gesagt, selbst diejenigen Kreise, welche dies rein 
ökonomisch gern anstreben, sind nicht mehr blind 
gegen die nationalen und politischen Gefahren, 
die eine solche so wenig volkstümliche General= 
taktik mit sich bringen würde“ (Weisengrün 
a. a. O. 462). Man fühlt es, daß man des Prole- 
tariats zur positiven Mitwirkung an der Kultur- 
arbeit bedarf, schon deswegen, weil in den unteren 
Klassen viel Talente schlummern, die nur duich un- 
günstige ökonomische Verhältnisse niedergedrückt 
werden, und weil jede herrschende exklusive Klasse 
die Tendenz hat, in ihrem Kern faul zu werden 
(Adler, Die Zukunft der sozialen Frage 1901). 
Daher jene zahlreichen und oft großartigen 
Versuche, welche gemacht werden, um das Inter- 
esse des Proletariats für unsere moderne Kultur 
zu gewinnen, jene Versuche, die sich in dem Wort 
„Volksbildung“ zusammenfassen lassen. Man 
sucht das geistige Interesse im Proletariat zu 
wecken, es für das Schöne in Kunst und Literatur 
zu erwärmen; man gründet Volkshochschulen und 
freie Volksbühnen, veranstaltet belehrende Vor- 
träge und Führungen durch Museen und Kunst- 
sammlungen, vielerorts mit erfreulichem Erfolg 
(ogl. Biermer, Art. Volksbildungsvereine im Hand- 
wörterb. d. Staatswissensch. VII 524 ff). 
Es ist jedoch klar, daß damit die wirtschaftliche 
Notlage des Proletariats keineswegs beseitigt 
wird. Von großem Interesse ist die Frage: Wie 
stellt sich die Sozialdemokratie, das or- 
ganisierte Proletariat, zu dieser Bewegung, welche 
demselben einen Anteil an den geistigen Genüssen 
unserer Kultur vermitteln möchte? Der Sozialis- 
mus erstrebt die Hebung des materiellen und 
geistigen Niveaus der Massen; man möchte darum 
glauben, daß er der gedachten Bewegung sehr 
sympathisch gegenüberstehe. Dem ist indes nicht 
so; nach zahlreichen Außerungen sozialistischer 
Schriftsteller zu schließen, ist er herzlich schlecht 
darauf zu sprechen. Die Kluft, die nach seiner 
Auffassung das Proletariat von dem Geistesleben 
der Gegenwart, dem ideologischen Niederschlag der 
kapitalistischen Produktionsweise, trennt, erscheint 
ihm gar nicht ausfüllbar. Die bürgerliche Kunst 
und das heutige Proletariat stehen auf zu ent- 
gegengesetztem Boden, als daß sie sich jemals 
brüderlich zusammenfinden könnten. Der So- 
zialismus kann mit der modernen Kunst, der ge- 
fälligen Dienerin der herrschenden Klassen, nie- 
mals sympathisieren. Diese Kunst, heißt es, kann 
niemals den Gefühlen des Proletariats ent- 
sprechen; die Künstler müßten aufgewachsen sein 
im Geist des Proletariats, durchtränkt sein von 
seinen Empfindungen und Ideen; das sei aber 
bei keinem derjenigen Künstler der Fall, die nur 
aus Unzufriedenheit und Mißvergnügen an den 
herrschenden Zuständen sich der Sache des Pro- 
letariats zuwenden. Man hat den Gegensatz schon 
dahin formuliert, daß die moderne Kunst einen 
tief pessimistischen, das Proletariat dagegen als 
die aufwärts strebende Klasse einen tief optimisti- 
Proletariat. 
  
376 
schen Grundzug habe (vgl. Walter, Sozialismus 
und moderne Kunst 1901, VII: Das Proletariat 
und die moderne Kunst). 
Daher die instinktive Abneigung des Sozialis- 
mus gegen die gedachte Volksbildungsbewegung. 
Er fürchtet, daß dadurch das Proletariat von seiner 
eigentlichen Aufgabe, dem Kampf um seine öko- 
nomische Emanzipation, abgezogen werden könnte. 
Wenn auch die Bemühungen um die Hebung 
des geistigen Niveaus der Massen die wärmsten 
Sympathien verdienen, so sind doch andere Maß- 
nahmen dringlicher, die seitens der Gesellschaft 
gegen eine zunehmende Proletarisierung ergriffen 
werden müssen. Hierher gehören alle jene Maß- 
regeln, die verhindern sollen, daß noch weitere be- 
drohte Gruppen des sozialen Organismus ins 
Proletariat hinabsinken. Sie lassen sich kurz mit 
„Schutz und Stärkung des noch vorhandenen 
Mittelstands“ zusammenfassen. Manche Sozio- 
logen glauben freilich, daß der fortschreitende Zer- 
fall des Mittelstands eine naturnotwendige Tat- 
sache sei, daß das Handwerk gegenüber dem un- 
aufhaltsam vordringenden Großbetrieb rettungslos 
dem Untergang geweiht sei. Eine Aussöhnung der 
Interessen des handwerksmäßigen und des kapita- 
listischen Wirtschaftssystems sei unmöglich — eine 
These, die besonders von Sombart vertreten 
wird. Indessen gibt es Zweige des Handwerks, 
die, durch Selbst- und Staatshilfe gestärkt, sich 
der Konkurrenz des Großbetriebs gegenüber wohl 
zu behaupten vermögen. Und man darf nicht ver- 
gessen, daß der Großbetrieb nicht Selbstzweck sein 
darf, sondern den Interessen des Ganzen zu 
dienen hat. 
Dann aber gilt es, die schon proletarisierten 
Arbeiter ökonomisch und sittlich zu heben und zu 
regenerieren. Arbeiterschutz und Arbeiterversiche- 
rung sollen auch dem Lohnarbeiter ein Aufsteigen 
zu menschenwürdigen Bedingungen des Lebens ge- 
statten. Wichtig ist vor allem die Organisation 
der Lohnarbeiter, deren unerläßliche Voraussetzung 
natürlich die volle Koalitionsfreiheit bildet. In 
der gewerkschaftlichen Organisation gewinnt auch 
der Proletarier dem Kapital gegenüber einen festen 
Halt. Es ist außer allem Zweifel, daß die Ge- 
werkschaften in England eine wesentliche Besserung 
in der Lebenshaltung der Lohnarbeiter herbei- 
geführt haben. Aber freilich darf man sich der 
Tatsachenichtverschließen, daß diese Organisationen 
doch mehr den qualifizierten Arbeitern, den „Elite- 
truppen“, zu statten gekommen sind, und daß das 
eigentliche Proletariat, die Klasse der ungelernten 
und darum schlechtest bezahlten Arbeiter noch wenig 
der Segnungen der Organisation teilhaftig ge- 
worden sind. Indessen braucht man auch in dieser 
Richtung sich keineswegs dem Pessimismus zu 
verschreiben; auch der untersten Schicht des Pro- 
letariats kommen die Bestimmungen des Arbeiter- 
schutzes und der Arbeiterversicherung zugute. Die 
Erfolge, die schon in der Verbesserung der Lebens- 
haltung der Industriearbeiter erzielt worden sind,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.