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gesagt, selbst diejenigen Kreise, welche dies rein
ökonomisch gern anstreben, sind nicht mehr blind
gegen die nationalen und politischen Gefahren,
die eine solche so wenig volkstümliche General=
taktik mit sich bringen würde“ (Weisengrün
a. a. O. 462). Man fühlt es, daß man des Prole-
tariats zur positiven Mitwirkung an der Kultur-
arbeit bedarf, schon deswegen, weil in den unteren
Klassen viel Talente schlummern, die nur duich un-
günstige ökonomische Verhältnisse niedergedrückt
werden, und weil jede herrschende exklusive Klasse
die Tendenz hat, in ihrem Kern faul zu werden
(Adler, Die Zukunft der sozialen Frage 1901).
Daher jene zahlreichen und oft großartigen
Versuche, welche gemacht werden, um das Inter-
esse des Proletariats für unsere moderne Kultur
zu gewinnen, jene Versuche, die sich in dem Wort
„Volksbildung“ zusammenfassen lassen. Man
sucht das geistige Interesse im Proletariat zu
wecken, es für das Schöne in Kunst und Literatur
zu erwärmen; man gründet Volkshochschulen und
freie Volksbühnen, veranstaltet belehrende Vor-
träge und Führungen durch Museen und Kunst-
sammlungen, vielerorts mit erfreulichem Erfolg
(ogl. Biermer, Art. Volksbildungsvereine im Hand-
wörterb. d. Staatswissensch. VII 524 ff).
Es ist jedoch klar, daß damit die wirtschaftliche
Notlage des Proletariats keineswegs beseitigt
wird. Von großem Interesse ist die Frage: Wie
stellt sich die Sozialdemokratie, das or-
ganisierte Proletariat, zu dieser Bewegung, welche
demselben einen Anteil an den geistigen Genüssen
unserer Kultur vermitteln möchte? Der Sozialis-
mus erstrebt die Hebung des materiellen und
geistigen Niveaus der Massen; man möchte darum
glauben, daß er der gedachten Bewegung sehr
sympathisch gegenüberstehe. Dem ist indes nicht
so; nach zahlreichen Außerungen sozialistischer
Schriftsteller zu schließen, ist er herzlich schlecht
darauf zu sprechen. Die Kluft, die nach seiner
Auffassung das Proletariat von dem Geistesleben
der Gegenwart, dem ideologischen Niederschlag der
kapitalistischen Produktionsweise, trennt, erscheint
ihm gar nicht ausfüllbar. Die bürgerliche Kunst
und das heutige Proletariat stehen auf zu ent-
gegengesetztem Boden, als daß sie sich jemals
brüderlich zusammenfinden könnten. Der So-
zialismus kann mit der modernen Kunst, der ge-
fälligen Dienerin der herrschenden Klassen, nie-
mals sympathisieren. Diese Kunst, heißt es, kann
niemals den Gefühlen des Proletariats ent-
sprechen; die Künstler müßten aufgewachsen sein
im Geist des Proletariats, durchtränkt sein von
seinen Empfindungen und Ideen; das sei aber
bei keinem derjenigen Künstler der Fall, die nur
aus Unzufriedenheit und Mißvergnügen an den
herrschenden Zuständen sich der Sache des Pro-
letariats zuwenden. Man hat den Gegensatz schon
dahin formuliert, daß die moderne Kunst einen
tief pessimistischen, das Proletariat dagegen als
die aufwärts strebende Klasse einen tief optimisti-
Proletariat.
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schen Grundzug habe (vgl. Walter, Sozialismus
und moderne Kunst 1901, VII: Das Proletariat
und die moderne Kunst).
Daher die instinktive Abneigung des Sozialis-
mus gegen die gedachte Volksbildungsbewegung.
Er fürchtet, daß dadurch das Proletariat von seiner
eigentlichen Aufgabe, dem Kampf um seine öko-
nomische Emanzipation, abgezogen werden könnte.
Wenn auch die Bemühungen um die Hebung
des geistigen Niveaus der Massen die wärmsten
Sympathien verdienen, so sind doch andere Maß-
nahmen dringlicher, die seitens der Gesellschaft
gegen eine zunehmende Proletarisierung ergriffen
werden müssen. Hierher gehören alle jene Maß-
regeln, die verhindern sollen, daß noch weitere be-
drohte Gruppen des sozialen Organismus ins
Proletariat hinabsinken. Sie lassen sich kurz mit
„Schutz und Stärkung des noch vorhandenen
Mittelstands“ zusammenfassen. Manche Sozio-
logen glauben freilich, daß der fortschreitende Zer-
fall des Mittelstands eine naturnotwendige Tat-
sache sei, daß das Handwerk gegenüber dem un-
aufhaltsam vordringenden Großbetrieb rettungslos
dem Untergang geweiht sei. Eine Aussöhnung der
Interessen des handwerksmäßigen und des kapita-
listischen Wirtschaftssystems sei unmöglich — eine
These, die besonders von Sombart vertreten
wird. Indessen gibt es Zweige des Handwerks,
die, durch Selbst- und Staatshilfe gestärkt, sich
der Konkurrenz des Großbetriebs gegenüber wohl
zu behaupten vermögen. Und man darf nicht ver-
gessen, daß der Großbetrieb nicht Selbstzweck sein
darf, sondern den Interessen des Ganzen zu
dienen hat.
Dann aber gilt es, die schon proletarisierten
Arbeiter ökonomisch und sittlich zu heben und zu
regenerieren. Arbeiterschutz und Arbeiterversiche-
rung sollen auch dem Lohnarbeiter ein Aufsteigen
zu menschenwürdigen Bedingungen des Lebens ge-
statten. Wichtig ist vor allem die Organisation
der Lohnarbeiter, deren unerläßliche Voraussetzung
natürlich die volle Koalitionsfreiheit bildet. In
der gewerkschaftlichen Organisation gewinnt auch
der Proletarier dem Kapital gegenüber einen festen
Halt. Es ist außer allem Zweifel, daß die Ge-
werkschaften in England eine wesentliche Besserung
in der Lebenshaltung der Lohnarbeiter herbei-
geführt haben. Aber freilich darf man sich der
Tatsachenichtverschließen, daß diese Organisationen
doch mehr den qualifizierten Arbeitern, den „Elite-
truppen“, zu statten gekommen sind, und daß das
eigentliche Proletariat, die Klasse der ungelernten
und darum schlechtest bezahlten Arbeiter noch wenig
der Segnungen der Organisation teilhaftig ge-
worden sind. Indessen braucht man auch in dieser
Richtung sich keineswegs dem Pessimismus zu
verschreiben; auch der untersten Schicht des Pro-
letariats kommen die Bestimmungen des Arbeiter-
schutzes und der Arbeiterversicherung zugute. Die
Erfolge, die schon in der Verbesserung der Lebens-
haltung der Industriearbeiter erzielt worden sind,