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eingetretenen Gast seine Ehehälfte zu überlassen
oder die jungfräuliche Tochter zuzuführen. Wahr-
scheinlich hat die Spekulation auf ein Gastgeschenk
mitgespielt und den materiellen Beiklang geliefert.
Das Hauptmotiv hatte jedoch bereits eine religiöse
Grundlage: man glaubte an den Besuch von Göt-
tern und hoffte oder befürchtete, der Besucher könnte
ein verkleideter Gott sein. Sicher ist aus der reli-
giösen und gastlichen Prostitution hervorgegangen
bzw. hat noch lange Zeit neben ihnen bestanden die
gewerbsmäßige Prostitution, die Darbietung
von Frauen und Mädchen um Geldeslohn an
fremde Männer.
Im Gegensatz zu den östlichen Kulturvölkern
haben die Germanen von sich aus keine Prosti-
tution entwickelt, denn sie schätzten und verehrten
außerordentlich die weibliche Jungfrauschaft. Erst
aus den Berührungen mit der Römerwelt lernten
sie die Prostitution kennen oder fanden sie vor in
den Städten des Dekumatenlands und in den
alten Garnisonen am Rhein gegen Ende des
2. Jahrh. v. Chr.
Das Christentum bekämpfte mit bestem Erfolg
zwar die religiöse Prostitution, aber auch die
härtesten Strafen waren nicht imstande, die ge-
werbliche Unzucht auszurotten. Schon die ersten
christlichen Kaiser sahen sich genötigt, sie als das
kleinere Ubel zu dulden. Karl d. Gr. hat sie zuerst
(im Jahr 805) verboten, dann aber, da sie immer
mehr an Ausdehnung zunahm, organisiert und
erkleckliche Abgaben von den Dirnen gezogen. Trotz
der harten Strafen (Abschneiden der Nase), womit
Friedrich Barbarossa die Gewerbsunzucht ahndete,
mehrten sich die Dirnen und Frauenhäuser. Lud-
wig der Heilige suchte die Prostitution aufs neue
zu unterdrücken, mußte sie aber unter gewissen
Einschränkungen tolerieren. Begünstigt durch die
Kriegszeiten hatte die Prostitution im Mittelalter
in Mitteleuropa einen furchtbaren Grad erreicht:
den Heereszügen folgten Scharen feiler Dirnen
und Weiber; bei Messen und großen Märkten,
bei Reichstagen und Konzilien hielten sie ihren
Einzug. Auch die Kreuzzüge hatten der Prosti-
tution außerordentlichen Vorschub geleistet. Im
15. Jahrh. hatte zuletzt jede deutsche Stadt auch
ihr Frauenhaus. Die Prostitution war ein un-
ehrlicher Beruf und die Dirnen standen unter
der Verwaltung des Henkers. Doch hielt fast
überall der Magistrat seine Hand über solche An-
stalten, in denen er auch Gäste von auswärts gern
bewirtete. Der erbitterte Kampf, den Kaiserin
Maria Theresia gegen die Prostitution und jede
Unsittlichkeit führte, hatte keinen Erfolg: die Pro-
stitution blieb in großem Umfang bestehen (man
zählte damals in Wien 10000 Prostituierte).
Auch die durch Jahrhunderte fortgesetzten Versuche
der Päpste, die offene Prostitution zu unterdrücken,
führten nur dazu, daß die geheime bis in die Fa-
milien hinein um sich gegriffen hat.
Wie in Frankreich und Deutschland hat sich die
Geschichte der Prostitution ähnlich in den übrigen
Prostitution.
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europäischen Ländern gestaltet: überall der stän-
dige Wechsel zwischen Verbot und Duldung. Seit
1545 wurde die Prostitution in England frei ge-
duldet, ohne irgendwie reguliert zu sein. Legali-
siert wurde sie wieder durch die französische Revo-
tion, was sie seitdem geblieben ist.
Im Jahr 1875 gründete Mrs. Josephine But-
ler die internationale Föderation zur Abschaffung
aller Bordelle und jeder sittenpolizeilichen Kon-
trolle („Reglementierung") schlechthin. Dieser
„Abolitionismust“ hielt 1877 seinen ersten
Kongreß in Genf und hat seither Hand in Hand
mit der sonstigen Frauenbewegung allerlei äußere
Erfolge zu erzielen gewußt.
III. Arsachen. Da die Prostitution nur als
Gesamterscheinung im Zusammenhang mit dem
ganzen sozialen Leben und seiner Entwicklung be-
griffen werden kann, so darf die Prostituierte nicht
als isoliertes Einzelwesen, sondern nur als Glied
einer sozialen Gruppe, der sie angehört, betrachtet
werden. Die Grundursache der Prostitution ist
darum die durch die äußern Lebensbedingungen
und durch die vernachlässigte Erziehung bedingte
Verwahrlosung des Individuums. Not oder Ver-
führung sind nur die äußere Veranlassung (occa-
sio sive causa occasionalis), durch welche die
einzelne Person der Prostitution, für die sie be-
reits prädisponiert erscheint, früher oder später
zugeführt wird. Zweifellos gibt es auch minder-
wertige, also „geborne“ Prostituierte, aber die
Ansicht (Lombrosos), daß jede Prostituierte eine
geborne Verbrecherin sei, ist unrichtig, denn diese
Meinung verwechselt die Ursache mit der Wirkung
und setzt an den Anfang der Prostitution, was
lediglich ihre Folge ist. Ebenso verkehrt ist die
Anschauung, als ob wirtschaftliche Not allein arme
Mädchen der gewerbsmäßigen Unzucht in die Arme
führe. Denn die Rekrutierung der Prostituierten
erfolgt aus allen Ständen, aus den stolzesten und
bestsituierten bis zu den niedrigsten. Bei Mädchen
der gebildeten Klassen wirkt meistens unbändige
Sinnlichkeit und bodenloser Leichtsinn oder „das
Bewußtsein, ungestraft sündigen zu können, weil
Folgen erfahrungsgemäß ausbleiben“ (Hessen 61),
bei Dienstmädchen, der „großen Reservearmee der
Prostitution“, hauptsächlich Putzsucht. Als wich-
tigste Triebfedern erweisen sich Trägheit, Genuß-
und Vergnügungssucht. Sodann leisten manche
Gewerbe, z. B. die der Kellnerinnen, Verkäufe-
rinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänze-
rinnen, der Prostitution Vorschub teils wegen des
leichten Verkehrs mit der Männerwelt teils wegen
der unzureichenden Belohnung. Ferner spielt eine
gewichtige Rolle die Verführungseitens der lüsternen
Männerwelt oder solcher Leute, die aus dem Ge-
werbe der Prostitution wieder Nutzen ziehen, seitens
der Kuppler und Kupplerinnen, Zuhälter oder
Verbrecher oder sogar der eignen Eltern. Eine
wesentliche Ursache der Prostitution ist weiterhin
die Nachfrage seitens des männlichen Geschlechts.
Auch die sog. Verhältnisse, die entweder auf kurze