Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

383 
gesetzliche Behandlung der Frage ist in Theorie 
und Praxis eine sehr verschiedene. Man wird das 
Verhältnis der Rechtsordnung zur Prostitution 
auf drei Grundsätze zurückführen können. 
1. Das Repressivsystem. Der Staat ver- 
bietet einfach die Prostitution, erklärt sie als straf- 
bar und bezweckt ihre Ausrottung durch Maßregeln 
repressiver Natur. Dieses Prinzip, das auf einer 
Verkennung der Grenzen von Moral und Recht 
beruht, konnte sich in den modernen Kulturländern 
keine Geltung verschaffen. Es wird hier übersehen, 
daß die Prostitution zwar eine unmoralische, aber 
keine rechtswidrige Handlung ist und nur dann 
als strafbar erklärt werden kann, wenn ein anti- 
soziales, die Interessen der Gesellschaft gefähr- 
dendes Verhalten der einzelnen Prostituierten vor- 
liegt. Das vom Recht zu schützende Gesellschafts- 
interesse ist hier das Rechtsgut der Gesundheit, 
das aber von der Prostituierten, die sich einer 
sanitätspolizeilichen Kontrolle unterwirft, weder 
böswilliger= noch fahrlässigerweise gefährdet wird. 
Es kann somit nicht die Prostitution als solche, 
sondern nur die unterlassene Unterwerfung unter 
die gesetzliche Kontrolle den Rechtsgrund einer 
Strafe bilden. 
2. Das Abolitionsprinzip. Der sog. 
Abolitionismus verlangt vom Staat die völlige 
Abschaffung (abolition) aller gesetzlichen und poli- 
zeilichen Maßnahmen gegen die Prostitution. Keine 
Duldung und keine Kontrolle: das ist die Losung 
dieser Kampfesrichtung. Weder unter dem Vor- 
wand der Unausrottbarkeit noch der Notwendig- 
keit, den gefährlichen Wirkungen der gewerblichen 
Unzucht entgegenzuarbeiten, dürfe der Staat sie 
reglementieren. Jede Reglung der Prostitution 
und namentlich die Genehmigung öffentlicher 
Häuser käme einer Legitimierung der Unmoral 
gleich, so daß die Prostitution als notwendig und 
rechtlich anerkannt erschiene. Das einzige, was 
der Staat tun könne, sei, durch Wohlfahrtsgesetze 
im weitesten Sinn, Hebung der Bildung, Bes- 
serung der sozialen und wirtschaftlichen Verhält- 
nisse der Prostitution den Nährboden zu entziehen, 
im übrigen aber die bestehende Prostitution zu 
ignorieren, d. h. gegen Prostituierte nur dann 
einzuschreiten, wenn sie sich gegen Anordnungen 
des allgemein geltenden Rechts vergehen. Das 
Abolitionssystem geht sicher von einem idealen 
Standpunkt aus, bekundet aber einen vollstän- 
digen Mangel an Verständnis für die tatsächlichen 
Verhältnisse. Erstens ist der von den Abolitio- 
nisten erhobene Einwand, daß es durch eine 
Reglementierung der Prostitution niemals mög- 
lich sein werde, alle tatsächlich die gewerbsmäßige 
Unzucht treibenden Personen der Kontrolle zu 
unterstellen, somit das Odium, das die Behörde 
infolge Duldung der Prostitution auf sich lade, 
durch die nur zweifelhaften Erfolge der Regle- 
mentierung nicht aufgewogen werde, ein Beweis- 
grund, der sich von selbst erledigt, denn damit ist 
nur gesagt, daß jede Reglementierung der Pro- 
Prostitution. 
  
384 
stitution notwendig eine unvollkommene ist. Zwei- 
tens ist der Einwurf, daß, solang nur die Pro- 
stituierte und nicht auch die sie besuchenden Männer 
einer ärztlichen Untersuchung unterzogen werden, 
die Reglementierung der Prostitution zwecklos sei, 
nicht nur nicht stichhaltig, sondern durchaus un- 
berechtigt. Denn aus der Tatsache, daß die aus 
Rücksichten der Gesundheit gewiß wünschenswerte 
ärztliche Untersuchung der Männer nicht statt- 
findet, folgt keineswegs, daß die polizeiliche und 
ärztliche Uberwachung der Prostitution nutzlos sei. 
Sodann ist es ein Gebot der Klugheit, auf die 
geringeren, aber wirklich erreichbaren Vorteile 
nicht deshalb zu verzichten, weil der größere Er- 
folg noch nicht zu erzielen ist. Uberdies ist die 
venerisch erkrankte Prostituierte weit gefährlicher 
als der infizierte Mann. Endlich ist auch die An- 
sicht der Abolitionisten, daß die Uberwachung oder 
Reglementierung der Prostitution entsittlichend 
auf die Gesellschaft wirke, unrichtig, denn nirgends 
wird eine schamlosere Prostitution und eine so ver- 
brecherische Kuppelei getrieben als in den sog. 
abolitionistischen Lindern. Das Abolitionssystem, 
das in England, Italien und in einigen Schweizer 
Kantonen durchgeführt erscheint, wurde auch in 
Dänemark im Jahr 1906 zur Geltung gebracht. 
3. Die Reglementierung. Dieses System 
geht von der Tatsache aus, daß die offene Pro- 
stitution nicht unterdrückt werden kann, ohne daß 
sofort die geheime oder wilde Prostitution, 
„Winkelprostitution“ genannt, in der mit Recht 
die allerschlimmste Form gesehen wird, nur desto 
unliebsamer bis in die Familien hinein um sich 
greift, und lehrt, das Übel sei nur einzuschränken 
und zu regulieren. Der Staat duldet danach die 
gewerbsmäßige Unzucht, falls die Dirnen sich po- 
lizeilich einschreiben lassen und sich alle 14 oder 
alle 8 Tage zur ärztlichen Untersuchung stellen 
(eingeschriebene Kontrolldirnen); die als venerisch 
erkrankt Befundenen werden einer zwangsweisen 
Spitalbehandlung unterworfen. Die nicht in- 
skribierten oder nicht kontrollierten Dirnen wer- 
den von der Polizei verfolgt und bestraft, nötigen- 
falls von ansteckender Krankheit geheilt und wieder 
entlassen. Während für die eingeschriebenen Dirnen 
ärztlicher Visitationszwang besteht, ist die Visi- 
tation den nicht eingeschriebenen freigestellt. Sie 
können sich untersuchen lassen und eine ärztliche 
Bescheinigung darüber bei sich tragen, um sie vor- 
zuzeigen, können es aber auch unterlassen und 
bilden daher das gesundheitsgefährlichste Element 
in der Dirnenwelt. 
Die in den verschiedenen Ländern und Städten 
geltenden Reglements weisen in den Einzelbestim- 
mungen Abweichungen auf, die sich aus der Eigen- 
art der lokalen Verhältnisse ergeben, stimmen aber 
in der Grundanschauung überein, wonach der 
Prostituierten, die sich freiwillig bestimmten Be- 
schränkungen unterwirft, eine Duldung ihres Ge- 
werbes zugesichert wird. Im Deutschen Reich 
speziell ist die Prostitution nicht anerkannt, viel-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.