Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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die Gewalt verleiht, über das Arbeitsprodukt 
anderer zu verfügen, und ein reines Besitzein- 
kommen vom Arbeitsertrag anderer sich anzueignen. 
Den Gegensatz der guten und der schlechten Seite 
an der Privaleigentumsinstitution hat Proudhon 
in die Formel gegossen: Der Ves ist rechtlich, 
das Eigentum ist widerrechtlich. Die Betonung 
der schlechten Seite hat ihren schärfsten Ausdruck 
in dem bekannten Satz gefunden: Eigentum ist 
Diebstahl (La propriété c'est le vol). Man 
könnte den Sinn vielleicht wiedergeben mit dem 
Ausdruck: Das Eigentum ist eine ganz von selbst 
tätige Stehlmaschine am Arbeitsertrag anderer. 
Proudhon selbst sagt in seiner zweiten Schrift 
über das Eigentum über den Sinn dieses Wortes: 
J’ai accusé la propriété, je n’ai point calom- 
nié les propriétaires, ce dui de ma part eüt 
Eté absurde (Diehl a. a. O. 1 52). 
Das Eigentum nimmt von vornherein einen 
Teil des gesellschaftlichen Arbeitsertrags als ein 
droit d’aubaine für sich vorweg und macht da- 
her die Einkommensverteilung ungerecht. Gleich- 
zeitig führt das Eigentum zu einer Anarchie der 
Produktion und Konsumtion dadurch, daß die 
Kaufkraft des Arbeiterstandes, dieses Hauptkonfu- 
menten, weil geschwächt durch den Abzug des 
Besitzeinkommens, nicht mehr alle von ihm pro- 
duzierten Güter zu konsumieren vermag. Ihren 
Brennpunkt haben diese ökonomischen Zusammen- 
hänge in der Wertgebung, die jetzt eine verkehrte, 
oder wie Proudhon sich ausdrückt, eine „nicht kon- 
stituierte" ist. Jetzt ist der ewige Widerstreit 
zwischen Nutzwert und Tauschwert. Es müsse 
dafür gesorgt werden, daß der Wert „konstituiert“ 
würde. Diese Konstitution des Werts könne nicht 
erreicht werden mit Aufgabe des Privateigentums 
an sich und mit Einführung des Kollektiveigen- 
tums. Denn ersteres allein garantierte persönliche 
Initiative und Verfügung über Produktionsmittel, 
letzteres aber wäre gleichbedeutend mit Einführung 
der schlimmsten persönlichen Unfreiheit. Es müsse 
eine dritte Gesellschaftsform gefunden werden, in 
der das Privateigentum nicht aufgehoben, sondern 
reformiert, d. h. von seinen schlechten Seiten befreit 
sei. (Zur Kritik der Proudhonschen Werttheorie 
außer Diehl a. a. O. 1 104/125; v. Wenckstern, 
Marx 1(18967 159/183; Kaulla, die geschichtl. 
Entwicklung der modernen Werttheorien (19061 
195 
3. Bei seinen sozialen Reformvorschlägen 
geht Proudhon entsprechend seiner ökonomischen 
Doktrin von dem Gedanken aus, die Lichtseiten 
des Privateigentums (individuelle Verfügung über 
Produktionsmittel) jedem nutzbar zu machen und 
die Schattenseiten (Vorwegnahme von reinem Be- 
sitzeinkommen aus dem gesellschaftlichen Arbeits- 
einkommen) zu beseitigen. Er will dies erreichen 
durch unentgeltlichen Kredit, der durch eine eigen- 
artige Bankorganisation geschaffen werden soll. 
Jedem, der produzieren will, soll das nötige 
Kapital zinslos, gegen bloße Verpflichtung der 
Proudhon. 
  
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Kapitalsrückzahlung, überlassen werden, und zwar 
in Noten, die alle Mitglieder der Bank bei Zah- 
lungen anzunehmen verpflichtet sind. Damit wäre 
die Macht der Kapitalisten gebrochen; Grundrente 
und Zins würden verschwinden, da niemand diese 
„Steuern“ an die Grund= und Kapitaleigentümer 
mehr zahlen wollte, wo er doch bei der „Volks- 
bank“ unentgeltlich Kredit bekäme. 
In die Praxis suchte Proudhon seine Ideen 
überzuführen durch Gründung und Eröffnung 
einer entsprechend eingerichteten „Volksbank“ 
(1849). Schon im Jahr vorher hatte er äußer- 
lich veranlaßt durch die damaligen Ereignisse ein- 
gehend seine Reformvorschläge in Broschüren und 
Zeitungsartikeln und als Mitglied der National= 
versammlung dem Publikum klar zu machen ge- 
sucht (ogl. A. Menger, das Recht auf den vollen 
Arbeitsertrag (11910) 72 A. 15). Die „Volks- 
bank“ kam freilich über die vorbereitenden Sta- 
dien nicht hinaus, teils weil das Aktienkapital 
(50.000 Franken) nicht voll einbezahlt wurde, und 
insbesondere weil Proudhon gerade damals wegen 
Preßvergehens zu drei Jahren Gefängnis verurteilt 
wurde. Immerhin hatten sich 20 000 Menschen 
gefunden, die Aktien zeichneten (36 000 Franken), 
die Statuten der Bank akzeptierten und mit der Idee 
und Einrichtung der Bank einverstanden waren. 
Aber auch wenn die Bank wirklich ins Leben ge- 
treten wäre, so hätte sie doch die Erwartungen 
nicht erfüllen können. Die Hauptfrage wäre 
gewesen, in welchem Maß und unter welchen 
Bedingungen die Bank ihre Kreditbons an die 
Mitglieder abgegeben hätte. Entweder in sehr 
großer Menge und ohne Rücksicht auf die Zah- 
lungsfähigkeit der Kreditnehmer oder aber nur 
an zahlungsfähige Personen. In ersterem Fall 
wären die Kreditnoten ins Ungemessene entwertet 
worden, in letzterem Fall würden sie nur in sehr 
beschränktem Maß ausgegeben werden und kämen 
für eine allgemeine Einführung unentgeltlichen 
Kredits und Beseitigung arbeitslosen Einkommens 
doch nicht in Frage. Sehr gut sagt Anton Menger, 
daß „Proudhon an die Stelle der kommunistischen 
Utopien, die er mit so großer Entschiedenheit be- 
kämpft, eine privatwirtschaftliche Utopie von der 
krassesten und augenfälligsten Undurchführbarkeit 
gesetzt habe“ (a. a. O. 76. Eingehende Kritik bei 
Diehl a. a. O. II 176/229; Vergleich mit ver- 
wandten Vorschlägen zur Reform des Geld= und 
Kreditwesens 231/268). 
4. Proudhons Glauben an die Durchführbar- 
keit seiner geschilderten „.mutualistischen“ Sozial- 
reform hängt zusammen mit seiner Aufsassung von 
der idealen Gesellschaftsverfassung, der er 
in und mit dieser Sozialreform zur Verwirklichung 
verhelfen will. Wie das wohl verstandene eigne 
Interesse der geplanten Sozialreform zum Sieg 
verhelfen wird, so soll dieselbe Interessenharmonie 
die neue Gesellschaftsform herbeiführen. In dieser 
soll die Idee der Gerechtigkeit, die die Men- 
schen vereint, das beherrschende Prinzip sein. Der
	        
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