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Geld, Kredit, Zins usw. Dabei bleibt bestehen, daß
Proudhons Analyse des sozialökonomischen Me-
chanismus, wie die des gesamten wissenschaftlichen
Sozialismus überhaupt, eine mangelhafte und
irrtümliche ist, sowie daß sein ganzer Reformplan
von Utopien getragen ist. In seiner Analyse der
Wertgebung zeigt sich eine Unterschätzung und
Nichtachtung der geistigen und leitenden Tätigkeit
im Wirtschaftsleben, und insbesondere für die Kon-
stituierung des Werts wird die eine Hauptfrage
nicht gestellt, ob nämlich „der Produktionsprozeß
ganz ohne Vermittlung der Kapital bildenden und
verwendenden Tätigkeit von Privatkapitalisten mög-
lich und ergiebig sei“ (Wagner a. a. O. I#1892T
323). Der Kapitalgewinn ist kein Abzug oder Dieb-
stahl am Arbeiter, sondern wenigstens dem Prinzip
nach durch die ökonomische Leistung des „organisie-
renden“ Privatkapitals verdient (Wagner a. a.O.).
Von eigentlich utopischen Elementen seien hervor-
gehoben Proudhons Festlegen der wirtschaftlichen
Entwicklung auf die kleinbürgerliche Produktions-
und Wirtschaftsverfassung und sodann die eigen-
artige sozialpsychologische Regulierung seiner neuen
Gesellschaftsform. Ersteres ist trefflich hervor-
gehoben bei Muckle, Geschichte der sozialist. Ideen
im 19. Jahrh. II (1909) 22 ff. Schon Schäffle
hat darauf aufmerksam gemacht, daß Proudhon
die nationale Gliederung als Grundbedingung
einer fruchtbaren Großproduktion nicht erkannt
habe, sondern in stadtwirtschaftlichen Vorstellungen
befangen geblieben sei. Die Utopie seiner sozial-
psychologischen Fundamentierung der neuen Ge-
sellschaftsform zeichnet sehr gut H. Pesch: „Ohne
Zweifel müßte ja eine ziemlich bedeutende Dosis
von Proudhons immanenter Gerechtigkeit in die
Menschen hineinfahren, um das lose Gefüge der
föderalistischen Gesellschaftzusammenzuhalten. Wie
das aber geschehen soll, darüber dürfte der Mann,
der einmal gesagt hat, daß von 100 Bürgern 97
Schufte seien, befriedigenden Aufschluß schwerlich
erteilen können“ (Liberalismus, Sozialismus und
christliche Gesellschaftsordnung III (19001 55).
Da Proudhon die Hauptsätze der ökonomischen
Doktrin des modernen Sozialismus schon vor
Rodbertus und Marx ausgesprochen hat, so hat
sich die Frage erhoben, wie weit diese letzteren etwa
direkt von Proudhon beeinflußt sind. Besonders
gilt diese Frage von Marx, der ja mit Proudhon
längere Zeit in regem Ideenaustausch und per-
sönlichem Verkehr gestanden hat. Und zwar bleibt
diese Frage auch bestehen, wenn man voll berück-
sichtigt, daß Marx wie Rodbertus „diese Sätze in
neuer Weise theoretisch begründeten, vertieften und
zu neuen Schlüssen zur Kritik der kapitalistischen
Wirtschaftsweise verwandt haben" (Diehl a. a. O.
II 320). Früher hat man die Originalität von
Marx ganz allgemein schärfer und entschiedener be-
tont, wobei vielleicht wohl auch bewußte oder un-
bewußte Oppositiongegen die Ubertreibungen Men-
gers, der fast alle Originalitätden führenden Sozia-
listen abstritt, ihren Einfluß ausgeübt haben mögen
Proudhon.
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(A. Menger, Das Recht auf den vollen Arbeits-
ertrag in geschichtlicher Darstellung ((1910, dazu.
Ad. Wagner a. a. O. 1 [81892] 37 A. 1).
Neuestens wird das geistige Verhältnis von
Proudhon und Marx wieder mehr als Problem
aufgefaßt und eingehender untersucht von Emil
Hammacher, Das philosophisch-ökonomische Sy-
stem des Marxismus. Unter Berücksichtigung
seiner Fortbildung und des Sozialismus über-
haupt dargestellt und kritisch beleuchtet (1909)
(ogl. besonders Kap. 6, § 3: Der Abfall von
Feuerbach und Proudhon, die Anknüpfung an die
klassische Werttheorie und ihre egalitäre Auslegung
78/86). Schon früher hat die Frage der „Paral=
lelität und Identität“ einer Reihe von Gedanken-
gängen bei Proudhon und Marx sehr selbständig
behandelt Adolf v. Wenckstern (Marx [18961.
7 Kap.: Proudhon und der Wert 159/188).
v. Wenckstern glaubt die scharfe, feindselige Stel-
lungnahme Marx’ gegenüber Proudhons Con-
tradictions économiques auch psychologisch er-
klären zu können: „Vielleicht auch ist der vsycho-
logische Vorgang der gewesen, daß in Marx im
Jahr 1847 große Betrübnis entstand, daß sein
guter Freund Proudhon ihm alle seine guten
Ideen, die er selbst aber noch nicht systematisch zu-
sammenzustellen vermochte, vorweggenommenhabe,
indem er bereits im Jahr 1846 mit einem fer-
tigen System vor die Welt trat“ (S. 180). Ham-
macher vertritt folgendes: „Im „Kapital“ hat
Marx zum großen Teil nichts anderes getan, als
die ideellen und ewigen Antagonismen der Proud-
honschen Logik als empirische Tatsachen der be-
stimmten kapitalistischen Produktionsweise zu be-
haupten. Und zuletzt ist auch Marx den Begriffs-
realismus Hegels und Proudhons nicht los ge-
worden. Neben den grundlegenden Bestimmungen,
in denen beide von Ricardo ausgehen, hat zur Kritik
des Kapitalismus kein anderes Buch auch nur eine
so annähernde Bedeutung für Marx gehabt als
Proudhons Philosophie der Not“ (S. 83/84);
und S. 86 schließt Hammacher, daß Marx „mit
großer Wahrscheinlichkeit zuerst von Proudhon den
Anstoß zu seiner eignen Mehrwertlehre erhielt",
daß aber dann „der Schüler, schrittweise auf die
ursprünglichen Quellen der klassischen Okonomie
zurückkehrend, gegen den ehemaligen Meister sich
gewandt habe“.
Eine eigentliche Schule hat Proudhon nicht ge-
gründet und hinterlassen; dazu war sowohl das
Eindringen in seine Lehre zu mühsam und schwierig
und auch seine wandlungsfähige Persönlichkeit
nicht geeignet. Auch zum praktischen Arbeiter-
führer war er nicht geschaffen. Dagegen ist seine
geistige Einwirkung auf die französische Arbeiter-
bewegung bis auf die Gegenwart bemerkbar. Die
Verschiedenheit des französischen vom deutschen
Sozialismus ist wenigstens teilweise auf Proudhon
zurückzuführen.
Literatur. Ein vollständiges Verzeichnis der
Schriften P.3 nebst Angabe der Übersetzungen