Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

401 
Geld, Kredit, Zins usw. Dabei bleibt bestehen, daß 
Proudhons Analyse des sozialökonomischen Me- 
chanismus, wie die des gesamten wissenschaftlichen 
Sozialismus überhaupt, eine mangelhafte und 
irrtümliche ist, sowie daß sein ganzer Reformplan 
von Utopien getragen ist. In seiner Analyse der 
Wertgebung zeigt sich eine Unterschätzung und 
Nichtachtung der geistigen und leitenden Tätigkeit 
im Wirtschaftsleben, und insbesondere für die Kon- 
stituierung des Werts wird die eine Hauptfrage 
nicht gestellt, ob nämlich „der Produktionsprozeß 
ganz ohne Vermittlung der Kapital bildenden und 
verwendenden Tätigkeit von Privatkapitalisten mög- 
lich und ergiebig sei“ (Wagner a. a. O. I#1892T 
323). Der Kapitalgewinn ist kein Abzug oder Dieb- 
stahl am Arbeiter, sondern wenigstens dem Prinzip 
nach durch die ökonomische Leistung des „organisie- 
renden“ Privatkapitals verdient (Wagner a. a.O.). 
Von eigentlich utopischen Elementen seien hervor- 
gehoben Proudhons Festlegen der wirtschaftlichen 
Entwicklung auf die kleinbürgerliche Produktions- 
und Wirtschaftsverfassung und sodann die eigen- 
artige sozialpsychologische Regulierung seiner neuen 
Gesellschaftsform. Ersteres ist trefflich hervor- 
gehoben bei Muckle, Geschichte der sozialist. Ideen 
im 19. Jahrh. II (1909) 22 ff. Schon Schäffle 
hat darauf aufmerksam gemacht, daß Proudhon 
die nationale Gliederung als Grundbedingung 
einer fruchtbaren Großproduktion nicht erkannt 
habe, sondern in stadtwirtschaftlichen Vorstellungen 
befangen geblieben sei. Die Utopie seiner sozial- 
psychologischen Fundamentierung der neuen Ge- 
sellschaftsform zeichnet sehr gut H. Pesch: „Ohne 
Zweifel müßte ja eine ziemlich bedeutende Dosis 
von Proudhons immanenter Gerechtigkeit in die 
Menschen hineinfahren, um das lose Gefüge der 
föderalistischen Gesellschaftzusammenzuhalten. Wie 
das aber geschehen soll, darüber dürfte der Mann, 
der einmal gesagt hat, daß von 100 Bürgern 97 
Schufte seien, befriedigenden Aufschluß schwerlich 
erteilen können“ (Liberalismus, Sozialismus und 
christliche Gesellschaftsordnung III (19001 55). 
Da Proudhon die Hauptsätze der ökonomischen 
Doktrin des modernen Sozialismus schon vor 
Rodbertus und Marx ausgesprochen hat, so hat 
sich die Frage erhoben, wie weit diese letzteren etwa 
direkt von Proudhon beeinflußt sind. Besonders 
gilt diese Frage von Marx, der ja mit Proudhon 
längere Zeit in regem Ideenaustausch und per- 
sönlichem Verkehr gestanden hat. Und zwar bleibt 
diese Frage auch bestehen, wenn man voll berück- 
sichtigt, daß Marx wie Rodbertus „diese Sätze in 
neuer Weise theoretisch begründeten, vertieften und 
zu neuen Schlüssen zur Kritik der kapitalistischen 
Wirtschaftsweise verwandt haben" (Diehl a. a. O. 
II 320). Früher hat man die Originalität von 
Marx ganz allgemein schärfer und entschiedener be- 
tont, wobei vielleicht wohl auch bewußte oder un- 
bewußte Oppositiongegen die Ubertreibungen Men- 
gers, der fast alle Originalitätden führenden Sozia- 
listen abstritt, ihren Einfluß ausgeübt haben mögen 
Proudhon. 
  
402 
(A. Menger, Das Recht auf den vollen Arbeits- 
ertrag in geschichtlicher Darstellung ((1910, dazu. 
Ad. Wagner a. a. O. 1 [81892] 37 A. 1). 
Neuestens wird das geistige Verhältnis von 
Proudhon und Marx wieder mehr als Problem 
aufgefaßt und eingehender untersucht von Emil 
Hammacher, Das philosophisch-ökonomische Sy- 
stem des Marxismus. Unter Berücksichtigung 
seiner Fortbildung und des Sozialismus über- 
haupt dargestellt und kritisch beleuchtet (1909) 
(ogl. besonders Kap. 6, § 3: Der Abfall von 
Feuerbach und Proudhon, die Anknüpfung an die 
klassische Werttheorie und ihre egalitäre Auslegung 
78/86). Schon früher hat die Frage der „Paral= 
lelität und Identität“ einer Reihe von Gedanken- 
gängen bei Proudhon und Marx sehr selbständig 
behandelt Adolf v. Wenckstern (Marx [18961. 
7 Kap.: Proudhon und der Wert 159/188). 
v. Wenckstern glaubt die scharfe, feindselige Stel- 
lungnahme Marx’ gegenüber Proudhons Con- 
tradictions économiques auch psychologisch er- 
klären zu können: „Vielleicht auch ist der vsycho- 
logische Vorgang der gewesen, daß in Marx im 
Jahr 1847 große Betrübnis entstand, daß sein 
guter Freund Proudhon ihm alle seine guten 
Ideen, die er selbst aber noch nicht systematisch zu- 
sammenzustellen vermochte, vorweggenommenhabe, 
indem er bereits im Jahr 1846 mit einem fer- 
tigen System vor die Welt trat“ (S. 180). Ham- 
macher vertritt folgendes: „Im „Kapital“ hat 
Marx zum großen Teil nichts anderes getan, als 
die ideellen und ewigen Antagonismen der Proud- 
honschen Logik als empirische Tatsachen der be- 
stimmten kapitalistischen Produktionsweise zu be- 
haupten. Und zuletzt ist auch Marx den Begriffs- 
realismus Hegels und Proudhons nicht los ge- 
worden. Neben den grundlegenden Bestimmungen, 
in denen beide von Ricardo ausgehen, hat zur Kritik 
des Kapitalismus kein anderes Buch auch nur eine 
so annähernde Bedeutung für Marx gehabt als 
Proudhons Philosophie der Not“ (S. 83/84); 
und S. 86 schließt Hammacher, daß Marx „mit 
großer Wahrscheinlichkeit zuerst von Proudhon den 
Anstoß zu seiner eignen Mehrwertlehre erhielt", 
daß aber dann „der Schüler, schrittweise auf die 
ursprünglichen Quellen der klassischen Okonomie 
zurückkehrend, gegen den ehemaligen Meister sich 
gewandt habe“. 
Eine eigentliche Schule hat Proudhon nicht ge- 
gründet und hinterlassen; dazu war sowohl das 
Eindringen in seine Lehre zu mühsam und schwierig 
und auch seine wandlungsfähige Persönlichkeit 
nicht geeignet. Auch zum praktischen Arbeiter- 
führer war er nicht geschaffen. Dagegen ist seine 
geistige Einwirkung auf die französische Arbeiter- 
bewegung bis auf die Gegenwart bemerkbar. Die 
Verschiedenheit des französischen vom deutschen 
Sozialismus ist wenigstens teilweise auf Proudhon 
zurückzuführen. 
Literatur. Ein vollständiges Verzeichnis der 
Schriften P.3 nebst Angabe der Übersetzungen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.