Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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mann (Zigarrenfabrik und Weinhandlung). In 
den ersten Jahren seines Geschäftslebens hatte er 
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, allmäh- 
lich besserten sich die Einnahmen. Von den mitt- 
leren Lebensjahren ab entbehrte er des Augenlichts 
fast gänzlich. 
Raiffeisen war eine eigenartige Persönlichkeit, 
die gern ihre eignen Wege ging. Sowohl voli- 
tisch wie religiös muß er als sog. „Einspänner“ 
betrachtet werden. Von dem Recht eines Staats- 
bürgers, sich an den Wahlen zur Volksvertretung 
zu beteiligen, machte er keinen Gebrauch aus Ab- 
neigung gegen jedes „Parteigetriebe“. In reli- 
giöser Beziehung gehörte er zu der Richtung des 
protestantischen Individualismus mit 
scharfer pietistischer Ausprägung, welcher 
nur die Ordnung des Verhältnisses des einzelnen 
gegenüber Gott und den Menschen betont und für 
die Betätigung des religiösen Empfindens den 
Schwerpunkt einzig und allein in die Ethik (In- 
dividual= und Sozialethik) legt mit scharfer Hervor- 
hebung des theozentrischen Standpunkts ohne die 
Anerkennung der Notwendigkeit des Anschlusses 
an eine kirchliche Gemeinschaft mit bestimmten 
dogmatischen Symbolen. Abgesehen von der von 
Raiffeisen klar betonten Gottheit Christi hatte 
seine dem praktischen Christentum zugewandte An- 
schauung in ihrem eigentlichen Endergebnis der 
Betätigung, systematisch betrachtet, am meisten 
Berührung mit den Grundideen des modernen 
„undogmatischen Christentums“. Ein wesentlicher 
Zug in Raiffeisens Charakter war seine große 
Energie und Willensstärke. Von dem mittleren 
Lebensalter ab beseelte ihn nur eine Idee: die Ver- 
wirklichung des Genossenschaftsgedankens mit dem 
Ziel der Organisation eines christlich-brüderlichen 
Gemeinschaftslebens. 
Nachdem Naiffeisen in den Notzeiten am Ende 
der 1840er Jahre Vereinigungen für den Bezug 
von Lebensbedürfnissen in seiner Bürgermeisterei 
gegründet hatte, wie solche damals in vielen Ge- 
genden Deutschlands, auch in der Schweiz (Frucht- 
vereine) entstanden, gründete er 1852 einen Wohl- 
tätigkeitsverein, welcher unter seine Zwecke auch 
Darlehnsbewilligungen zählte. Das war aber 
keine Genossenschaft auf Selbsthilfe, sondern die 
Mitglieder der Vereinigung liehen die von ihnen 
aufgebrachten Gelder an Außenstehende aus. Ein 
Jahr vor seinem Abgang als Bürgermeister (1864) 
gründete er dann einen Darlehnskassenverein nach 
den Grundsätzen von Schulze-Delitzsch (vgl. dies. 
Art.) für den Bereich der Bürgermeisterei Heddes- 
dorf. Während seine erste Gründung in Weyer- 
busch als kleine Bezugsvereinigung für gemein- 
same Beschaffung von Getreide, in Flammersfeld 
als „Hilfsverein unbemittelter Landwirte“ auf 
Reglung des Viehhandels sich beschränkte, erstreckte 
der „Wohltätigkeitsverein“ in Heddesdorf seine 
Tätigkeit auf Erziehung der unteren Volksklasse, 
insbesondere verwahrloster Kinder, auf Beschäf- 
tigung Arbeitsloser, besonders auch entlassener 
Raiffeisen. 
  
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Sträflinge, auf Förderung des Wohlstands durch 
Gewährung von Darlehen und Verabfolgung von 
Vieh. Als die Mitglieder des Heddesdorfer Wohl- 
tätigkeitsvereins sich weigerten, weitere Beiträge 
zur Erfüllung der Vereinszwecke zu leisten, da 
schritt Raiffeisen zur Gründung einer Genossen- 
chaft nach Art der Schulzeschen, welch letztere 
bereits in einer Zahl von mehr als 1000 damals 
bestanden. Im Jahr 1868 tritt er in den Dienst 
des „Landwirtschaftlichen Vereins für Rhein- 
preußen“, um als Beauftragter des letzteren „den 
Lokalabteilungen bei der Gründung von Darlehns- 
kassenvereinen an die Hand zu gehen“. Im Jahr 
1869 geht er zur Teilung des Heddesdorfer Ver- 
eins in vier kleinere Vereine über. Für dieses 
Vorgehen dürfte das Beispiel des Anhausener 
Vereins maßgebend gewesen sein, und für die 
Maßnahmen des letzteren war zweifellos die Ge- 
staltung der seit Anfang der 1860er Jahre bereits 
im benachbarten Nassau bestehenden ländlichen 
Vereine mitbestimmend (vgl. Frhr von der Goltz 
im Wochenblatt der „Annalen der Landwirtschaft 
in den kgl. preußischen Staaten“ Nr 6/9, Jahrg. 
1863). Diese nassauischen Genossenschaften hatten 
kleinen Vereinsbezirk und unentgeltliche Verwal= 
tung, welche Statutarbestimmungen sich dort aus 
den Verhältnissen ergeben hatten. In Anhausen 
war man durch die Verhältnisse auch gezwungen 
worden, von der Einführung von Geschäftsanteilen 
Abstand zu nehmen, und mit dieser Eigentümlich- 
keit war zugleich die andere des Ausschlusses von 
Dividenden und der Ansammlung des Gewinns 
zu einem gemeinsamen Vereinsvermögen gegeben. 
Sowohl in Anhausen, wie auch vorher schon in 
den erwähnten nassauischen Genossenschaften waren 
die Kreditgenossenschaften zugleich Konsumvereine 
zur Beschaffung der landwirtschaftlichen Ver- 
brauchsgegenstände, welche Kombination Raiff- 
eisen bekanntlich ebenfalls traf. Die Momente, 
welche das Wesen der „Raiffeisenvereine“ aus- 
machen, sind also nicht in einer klar durchdachten 
systematischen Idee Raiffeisens zu suchen, sondern 
waren vor Raiffeisen schon gegeben und finden 
die Erklärung ihrer genetischen Entwicklung in 
gegebenen Verhältnissen, womit aber Raiffeisens 
Verdienst an der Ausgestaltung des ländlichen Ge- 
nossenschaftswesens nicht geschmälert wird. 
In den aus den Verhältnissen sich er- 
gebenden und von den Schulzeschen Einrichtungen 
abweichenden Bestimmungen der Statuten in An- 
hausen erblickte Raiffeisen bald die Elemente, aus 
denen am zweckmäßigsten die ländlichen Dar- 
lehnskassenvereine sich aufbauen würden, indem er 
darin zugleich die Möglichkeit zu finden glaubte, 
seine frühere charitative Idee der Fürsorge für die 
Unbemittelten mit dem Genossenschaftsprinzip der 
Selbhilfe verbinden zu können. So entwickelte 
sich bei ihm Anfang der 1870er Jahre immer 
klarer der Gedanke, für die ländlichen Darlehns- 
kassenvereine im Unterschied von den städtischen 
Genossenschaften als Grundsätze aufzustellen: 
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