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mann (Zigarrenfabrik und Weinhandlung). In
den ersten Jahren seines Geschäftslebens hatte er
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, allmäh-
lich besserten sich die Einnahmen. Von den mitt-
leren Lebensjahren ab entbehrte er des Augenlichts
fast gänzlich.
Raiffeisen war eine eigenartige Persönlichkeit,
die gern ihre eignen Wege ging. Sowohl voli-
tisch wie religiös muß er als sog. „Einspänner“
betrachtet werden. Von dem Recht eines Staats-
bürgers, sich an den Wahlen zur Volksvertretung
zu beteiligen, machte er keinen Gebrauch aus Ab-
neigung gegen jedes „Parteigetriebe“. In reli-
giöser Beziehung gehörte er zu der Richtung des
protestantischen Individualismus mit
scharfer pietistischer Ausprägung, welcher
nur die Ordnung des Verhältnisses des einzelnen
gegenüber Gott und den Menschen betont und für
die Betätigung des religiösen Empfindens den
Schwerpunkt einzig und allein in die Ethik (In-
dividual= und Sozialethik) legt mit scharfer Hervor-
hebung des theozentrischen Standpunkts ohne die
Anerkennung der Notwendigkeit des Anschlusses
an eine kirchliche Gemeinschaft mit bestimmten
dogmatischen Symbolen. Abgesehen von der von
Raiffeisen klar betonten Gottheit Christi hatte
seine dem praktischen Christentum zugewandte An-
schauung in ihrem eigentlichen Endergebnis der
Betätigung, systematisch betrachtet, am meisten
Berührung mit den Grundideen des modernen
„undogmatischen Christentums“. Ein wesentlicher
Zug in Raiffeisens Charakter war seine große
Energie und Willensstärke. Von dem mittleren
Lebensalter ab beseelte ihn nur eine Idee: die Ver-
wirklichung des Genossenschaftsgedankens mit dem
Ziel der Organisation eines christlich-brüderlichen
Gemeinschaftslebens.
Nachdem Naiffeisen in den Notzeiten am Ende
der 1840er Jahre Vereinigungen für den Bezug
von Lebensbedürfnissen in seiner Bürgermeisterei
gegründet hatte, wie solche damals in vielen Ge-
genden Deutschlands, auch in der Schweiz (Frucht-
vereine) entstanden, gründete er 1852 einen Wohl-
tätigkeitsverein, welcher unter seine Zwecke auch
Darlehnsbewilligungen zählte. Das war aber
keine Genossenschaft auf Selbsthilfe, sondern die
Mitglieder der Vereinigung liehen die von ihnen
aufgebrachten Gelder an Außenstehende aus. Ein
Jahr vor seinem Abgang als Bürgermeister (1864)
gründete er dann einen Darlehnskassenverein nach
den Grundsätzen von Schulze-Delitzsch (vgl. dies.
Art.) für den Bereich der Bürgermeisterei Heddes-
dorf. Während seine erste Gründung in Weyer-
busch als kleine Bezugsvereinigung für gemein-
same Beschaffung von Getreide, in Flammersfeld
als „Hilfsverein unbemittelter Landwirte“ auf
Reglung des Viehhandels sich beschränkte, erstreckte
der „Wohltätigkeitsverein“ in Heddesdorf seine
Tätigkeit auf Erziehung der unteren Volksklasse,
insbesondere verwahrloster Kinder, auf Beschäf-
tigung Arbeitsloser, besonders auch entlassener
Raiffeisen.
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Sträflinge, auf Förderung des Wohlstands durch
Gewährung von Darlehen und Verabfolgung von
Vieh. Als die Mitglieder des Heddesdorfer Wohl-
tätigkeitsvereins sich weigerten, weitere Beiträge
zur Erfüllung der Vereinszwecke zu leisten, da
schritt Raiffeisen zur Gründung einer Genossen-
chaft nach Art der Schulzeschen, welch letztere
bereits in einer Zahl von mehr als 1000 damals
bestanden. Im Jahr 1868 tritt er in den Dienst
des „Landwirtschaftlichen Vereins für Rhein-
preußen“, um als Beauftragter des letzteren „den
Lokalabteilungen bei der Gründung von Darlehns-
kassenvereinen an die Hand zu gehen“. Im Jahr
1869 geht er zur Teilung des Heddesdorfer Ver-
eins in vier kleinere Vereine über. Für dieses
Vorgehen dürfte das Beispiel des Anhausener
Vereins maßgebend gewesen sein, und für die
Maßnahmen des letzteren war zweifellos die Ge-
staltung der seit Anfang der 1860er Jahre bereits
im benachbarten Nassau bestehenden ländlichen
Vereine mitbestimmend (vgl. Frhr von der Goltz
im Wochenblatt der „Annalen der Landwirtschaft
in den kgl. preußischen Staaten“ Nr 6/9, Jahrg.
1863). Diese nassauischen Genossenschaften hatten
kleinen Vereinsbezirk und unentgeltliche Verwal=
tung, welche Statutarbestimmungen sich dort aus
den Verhältnissen ergeben hatten. In Anhausen
war man durch die Verhältnisse auch gezwungen
worden, von der Einführung von Geschäftsanteilen
Abstand zu nehmen, und mit dieser Eigentümlich-
keit war zugleich die andere des Ausschlusses von
Dividenden und der Ansammlung des Gewinns
zu einem gemeinsamen Vereinsvermögen gegeben.
Sowohl in Anhausen, wie auch vorher schon in
den erwähnten nassauischen Genossenschaften waren
die Kreditgenossenschaften zugleich Konsumvereine
zur Beschaffung der landwirtschaftlichen Ver-
brauchsgegenstände, welche Kombination Raiff-
eisen bekanntlich ebenfalls traf. Die Momente,
welche das Wesen der „Raiffeisenvereine“ aus-
machen, sind also nicht in einer klar durchdachten
systematischen Idee Raiffeisens zu suchen, sondern
waren vor Raiffeisen schon gegeben und finden
die Erklärung ihrer genetischen Entwicklung in
gegebenen Verhältnissen, womit aber Raiffeisens
Verdienst an der Ausgestaltung des ländlichen Ge-
nossenschaftswesens nicht geschmälert wird.
In den aus den Verhältnissen sich er-
gebenden und von den Schulzeschen Einrichtungen
abweichenden Bestimmungen der Statuten in An-
hausen erblickte Raiffeisen bald die Elemente, aus
denen am zweckmäßigsten die ländlichen Dar-
lehnskassenvereine sich aufbauen würden, indem er
darin zugleich die Möglichkeit zu finden glaubte,
seine frühere charitative Idee der Fürsorge für die
Unbemittelten mit dem Genossenschaftsprinzip der
Selbhilfe verbinden zu können. So entwickelte
sich bei ihm Anfang der 1870er Jahre immer
klarer der Gedanke, für die ländlichen Darlehns-
kassenvereine im Unterschied von den städtischen
Genossenschaften als Grundsätze aufzustellen:
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