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kleinen Vereinsbezirk, unentgeltliche Leitung der
Verwaltung, Beschränkung der Geschäftsanteile
und der Gewinnverteilung, Ansammlung eines
unteilbaren Stiftungsfonds. Das Motiv des
Zusammentritts in der Genossenschaft sollte die
Nächstenliebe, das Ziel des Genossenschaftswesens
in erster Linie die Erziehung der Mitglieder zu
wirtschaftlicher Mündigkeit sein. Der Ausgangs-
punkt der ländlichen Kreditgenossenschaft in der
Raiffeisenschen Form ist also Anpassung an die
praktischen Verhältnisse. Die weitere Entwicklung
wird getragen von idealen Gesichtspunkten.
Während Raiffeisen zuerst den Anschluß an die
unter Schulzes Leitung gegründete Anwaltschaft
in Potsdam empfohlen hatte, spricht er später den
Gedanken der Gründung einer besondern Ver-
einigung für die ländlichen Darlehnskassenvereine
aus. Sein Vorschlag geht dahin, in jeder Pro-
vinz bzw. jedem Landesteil in Deutschland eine
Zentralbank zum Geldausgleich zu bilden und alle
diese Zentralstellen mit völliger Wahrung ihrer
selbständigen Verwaltung zu einem Mittelpunkt
in einer deutschen Generalbank zu vereinigen. Ent-
sprechend diesem Plan kam es 1872 zur Gründung
der „Rheinischen landwirtschaftlichen Genossen-
schaftsbank“ und im Jahr 1874 zur Gründung
entsprechender Anstalten für Hessen und für West-
falen, sowie im selben Jahr auch zur Bildung einer
Generalbank. Die sämtlichen Banken mußten aber
infolge einer von Schulze-Delitzsch im deutschen
Reichstag eingebrachten Interpellation aufgelöst
werden; ebenso fand die in Verbindung mit der
Generalbank in Aussicht genommene Lebensver-
sicherungsgesellschaft Arminia, welche besonders die
Versicherung der ländlichen Bevölkerung in die
Wege leiten sollte, keine staatliche Bestätigung.
Der Gedanke der provinziellen Gliederung
der genossenschaftlichen Verbandsorganisation hatte
zweifellos bei Raiffeisen sich entwickelt durch seine
Beziehungen zum Landwirtschaftlichen Verein für
Rheinpreußen, wie es denn auch im Statut der
zuerst gegründeten Rheinischen Genossenschaftsbank
ausdrücklich heißt, daß sie ihre Tätigkeit auf das
Gebiet des letztgenannten Vereins zu beschränken
beabsichtige. An der Verwirklichung einer zentrali-
sierten Dezentralisation im Genossenschaftswesen
verhindert, befürwortete Raiffeisen im Jahr 1876
die Gründung einer Zentralkasse auf Aktien für
ganz Deutschland, also eine Organisation ohne
Beziehung zum Landwirtschaftlichen Verein sowie
ohne Beschränkung auf einen Landesteil, wie im
Jahr 1877 auch ein Anwaltschaftsverband zur
Kontrolle und Revision sowie Erteilung von Rat
und Auskunft für die angeschlossenen Genossen-
schaften gebildet wurde. Im Jahr 1881 trat als
Institut zur Sicherstellung der Zukunft der im
Dienst der Genossenschaftsorganisation stehenden
Beamten, überhaupt zur Beschaffung der Organi-
sationsmittel die offene Handelsgesellschaft „Firma
Raiffeisen“ ins Leben. Die Krone der Genossen-
schaftsorganisation, wie Raiffeisen sie sich mit dem
Raiffeisen.
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Schwerpunkt in der Volkserziehung dachte,
sollte ein von den Beamten der Genossenschafts-
organisation zu bildender konfessionsloser Orden
— mit dem Namen Charitasgesellschaft und mit
der Aufgabe der sozialen Krankenpflege — bilden.
Die Mitglieder dieser Vereinigung sollten auf per-
sönliches Eigentum verzichten und ehelos bleiben,
der Reingewinn aus den von der Gesellschaft zu
betreibenden Geschäften söllte zu einem unteil-
baren Geschäftsvermögen angesammelt werden
mit der Bestimmung, für die Zwecke der Ge-
nossenschaftsorganisation Verwendung zu finden.
Diese letztere Einrichtung zu treffen, wurde Raiff-
eisen durch den Tod gehindert, und die „Firma
Raiffeisen“ wurde ein Jahrzehnt nach des Grün-
ders Tod aufgelöst.
Während die von Raiffeisen gegründete Ge-
nossenschaftsorganisation, wie sie sich bei seinem
Tod fand, den Charakter straffer Zentralisation
für ganz Deutschland trug, hatten weite genossen-
schaftliche Kreise an dem ursprünglichen Programm
von Raiffeisen festgehalten, selbständige Landes-
organisationen zu schaffen und diese mit Selb-
ständigkeit der Verwaltung ausgerüsteten Landes-
organisationen in einer deutschen Zentralisation
zu vereinigen. Diese Bestrebungen sind verwirk-
licht worden in dem „Allgemeinen Verband deut-
scher landwirtschaftlicher Genossenschaften“, aus
dem der heute bestehende „Reichsverband deutscher
landwirtschaftlicher Genossenschaften“ entstanden
ist, dessen Sitz zurzeit in Darmstadt sich be-
findet. Gerade die Bildung der Landesorgani-
sationen hat wie keine andere Einrichtung zur
Verbreitung des Genossenschaftswesens beigetragen
und die meisten Sympathien in ländlichen Kreisen
gefunden, was am besten aus den Zahlen hervor-
geht, daß bis zum Beginn des 20. Jahrh. die
Gesamtzahl der deutschen Genossenschaften etwa
19600 betrug, von denen auf die Landwirtschaft
rund 15.000 entfielen und von diesen wieder
11500 sich von den Reiffeisenschen Zentrali-
sationsbestrebungen ferngehalten und nur etwa
3500 bei der Raiffeisenschen Organisation An-
schluß gesucht hatten. Die letztere selbst fand un-
gefähr ein Jahrzehnt nach Raiffeisens Tod dann
nochmals im Jahr 1905 eine durchgreifende Um-
gestaltung, welche dem Gedanken der Dezentrali-
sation wieder mehr Zugeständnisse zu machen suchte,
indem man eine dezentralisierte Zentralisation
durchführte. Auch schloß sich die Raiffeisenorgani-
sation 1905 an den Reichsverband an, ohne
indessen ihre Selbständigkeit aufzugeben. Aber
bereits im Jahr 1909 fand eine weitere Reorgani-
sation in der Raiffeisenschen Zentralkasse durch
Trennung des Geld- und Warenverkehrs und
Verlegung des Mittelpunkts nach Berlin statt.
Von Reiffeisen aber soll man niemals die Lehre
vergessen, daß das Genossenschaftswesen sich auf
dem Boden der Nächstenliebe aufbauen muß
und dieses Prinzip auch gegenüber den außer
der Genossenschaft stehenden Bevölkerungsgruppen