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verzeichnen vielfach auch die Dorfweistümer, d. h.
die jährlich zur Verkündigung gebrachten Rechts-
aufzeichnungen der Grundherrschaften. Mit Erstar-
kung der Territorialgewalten leitet im 14. Jahrh.
die Periode der landesherrlichen Gesetzgebung ein,
die in ihren „Landrechten“ seit dem Niedergang
der Städte die Führung in der Privatrechts-
entwicklung übernimmt und durch die ganzen
Jahrhunderte der Neuzeit, die Zeit der sog. Par-
tikularrechte, behält. Durch die Rezeption des
römischen Rechts erfuhr der Privatrechtszustand
Deutschlands seit dem Beginn der Neuzeit die
folgenschwerste Umgestaltung in Wissenschaft, Ge-
setzgebung und Praxis. Es trat ein in Jahr-
hunderten nicht ausgeglichener Gegensatz zwischen
dem einheimischen Recht, dessen Gesetze nach dem
Sprichwort „Stadtrecht bricht Landrecht, Land-
recht bricht gemein Recht“ vor dem römisch-ge-
meinen Recht den Vorrang hatten, und diesem
letzteren ein. In den sog. Reformationen der Stadt-
und Landrechte begegnen seit dem 16. Jahrh. Ver-
suche, den Gegensatz zwischen dem einheimischen
und dem fremden Recht innerlich zu überwinden,
die aber immer mehr in das romanistische Fahr-
wasser gerieten. Soweit die Praxis im sog. Usus
modernus Pandectarum unter Führung der
sächsischen Gerichte deutsche Rechtsgewohnheiten
mit dem Fremdrecht verwebt hatten, begegnete sie
zu Beginn des 19. Jahrh. bei der historischen
Rechtsschule (Savigny, Puchta) einer radikalen
bistorischen Gegenströmung, die das römische Recht
in seiner antiken Gestalt wieder zu reiner Geltung
bringen wollte. Durch die großen Privatrechts-
kodifikationen einzelner Staaten seit der Mitte des
18. Jahrh. (Bayern 1754, Preußen 1794, Oster-
reich 1811, Code civil 1804, Badisches Land-
recht 1810, Sächsisches B.G. B. 1863), des-
gleichen durch die Schaffung einer einheitlichen
Wechselordnung (1848) und eines allgemeinen
deutschen Handelsgesetzbuchs (1861) wurde die
Privatrechtseinheit mächtig gefördert und infolge
des Naturrechts und der immer zahlreicher ge-
wordenen neuzeitlichen Gesetzgebungsfragen die
allmähliche Emanzipation vom römischen Recht
erreicht.
Im 19. Jahrh. entstehen Strafgesetzbücher für
die einzelnen Staaten, welche nach Errichtung des
Norddeutschen Bunds und des Deutschen Reichs
durch ein einheitliches Strafgesetzbuch für das
Deutsche Reich ersetzt worden sind.
Durch die Errichtung des Deutschen Reichs
wurden die politischen Vorbedingungen zur Ein-
führung eines über das Reichsgebiet sich erstrecken-
den allgemeinen bürgerlichen Rechts geschaffen.
Das 1896 erlassene B.G.B. regelt die große
Masse des bürgerlichen Rechts als Reichsrecht, das
im Gegensatz zum ehemaligen gemeinen Recht das
Landesrecht bricht. Das Recht der Gegenwart
gilt wie einst das alte Stammesrecht der germani-
schen und fränkischen Zeit gleichmäßig für alle
Rechtsgenossen, als Standesrecht gilt nur noch fort
Recht, Deutsches.
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das Recht des hohen Adels. Wenn Handels= und
Gewerberecht eigne Normen für bestimmte Berufe
kennen, wenn gewisse Güterarten besonders ge-
regelt sind, so sind diese Rechtssätze nicht als
Sonderrechte nach Art der Staatsrechte aufzu-
fassen, sondern als spezielle Reglung bestimmter
Rechtsverhältnisse, die den allgemeinen Regeln des
bürgerlichen Rechts unterworfen bleiben und jeder-
mann den Eintritt gestatten. Das B.G.B. regelt
nur Privatrechtsverhältnisse unter Ausschluß des
öffentlichen Rechts, dabei versteht es unter bürger-
lichem Recht den Inbegriff derjenigen Normen,
welche die den Personen als Privatpersonen zu-
kommende rechtliche Stellung und die Verhältnisse,
in welchen die Personen als Privatpersonen unter-
einander stehen, zu regeln bestimmt sind. Die
Grundlage des B.G.B. bildet das in den deut-
schen Staaten geltend gewesene Recht, dessen ge-
meinsame Rechtsgedanken aufgesucht und, soweit
sie dem gegenwärtigen Rechtsbewußtsein und den
wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechen, fort-
gebildet worden sind. Die juristische Behandlung
des Rechtsstoffs, die juristische Technik steht auf
dem Boden der modernen deutschen Rechtswissen-
schaft, die ihren hohen Grad der Entwicklung der
Grundlage des römischen Rechts wesentlich ver-
dankt. Der Inhalt des B.G. B. ist im Sachen-
recht, Erbrecht und im Familienrecht sowie bei
den juristischen Personen deutschrechtlich, im Recht
der Schuldverhältnisse vorwiegend römischrechtlich;
doch ist den modernen sozialen Anschauungen eine
breite Gasse geöffnet. Den sozialen Bedürfnissen
kommen die Vorschriften über das Ermessen der
Gerichte, die Wahrung von Treu und Glauben
nach der Verkehrssitte, die unsittlichen Geschäfte
und die unerlaubten Handlungen entgegen. Im
Obligationenrecht berücksichtigen zahlreiche Be-
stimmungen berechtigte soziale Forderungen. Den
Schutz des Erwerbs in gutem Glauben beherrscht
das Eigentum an beweglichen Sachen, durch das
ganze Familienleben geht das Bestreben hindurch,
die rechtliche Stellung der Frauen zu heben. Alle
Beschränkungen ihrer Geschäftsfähigkeit sind be-
seitigt; die persönliche Rechtsstellung der Frau in
der Ehe ist weitgehend gesichert; ihre vermögens-
rechtliche Stellung ist durch die Gestaltung des
gesetzlichen Güterrechts dem geltend gewesenen
Recht gegenüber erheblich verbessert. Im Erbrecht
ist die Haftung des Erben für die Nachlaßverbind-
lichkeiten, die Erbengemeinschaft u. a. eigenartig
geregelt. Zu Unrecht ward dem B.G.B. der Vor-
wurf gemacht, es sei undeutsch, unsozial und un-
verständlich.
Das B. G. B. umfaßt nicht das neben ihm durch
Sondergesetze geregelte Reichsprivatrecht sowie das-
jenige Privatrecht, dessen Reglung dem Landes-
recht vorbehalten worden ist. Die diesbezüglichen
Artikel des Einführungsgesetzes zum B.G.B. hat
man die Verlustliste der deutschen Rechtseinheit
genannt. Sie umfassen gewisse Rechtsverhältnisse
an Grundstücken, Wasserrecht, Jagd, Fischerei und