Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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verzeichnen vielfach auch die Dorfweistümer, d. h. 
die jährlich zur Verkündigung gebrachten Rechts- 
aufzeichnungen der Grundherrschaften. Mit Erstar- 
kung der Territorialgewalten leitet im 14. Jahrh. 
die Periode der landesherrlichen Gesetzgebung ein, 
die in ihren „Landrechten“ seit dem Niedergang 
der Städte die Führung in der Privatrechts- 
entwicklung übernimmt und durch die ganzen 
Jahrhunderte der Neuzeit, die Zeit der sog. Par- 
tikularrechte, behält. Durch die Rezeption des 
römischen Rechts erfuhr der Privatrechtszustand 
Deutschlands seit dem Beginn der Neuzeit die 
folgenschwerste Umgestaltung in Wissenschaft, Ge- 
setzgebung und Praxis. Es trat ein in Jahr- 
hunderten nicht ausgeglichener Gegensatz zwischen 
dem einheimischen Recht, dessen Gesetze nach dem 
Sprichwort „Stadtrecht bricht Landrecht, Land- 
recht bricht gemein Recht“ vor dem römisch-ge- 
meinen Recht den Vorrang hatten, und diesem 
letzteren ein. In den sog. Reformationen der Stadt- 
und Landrechte begegnen seit dem 16. Jahrh. Ver- 
suche, den Gegensatz zwischen dem einheimischen 
und dem fremden Recht innerlich zu überwinden, 
die aber immer mehr in das romanistische Fahr- 
wasser gerieten. Soweit die Praxis im sog. Usus 
modernus Pandectarum unter Führung der 
sächsischen Gerichte deutsche Rechtsgewohnheiten 
mit dem Fremdrecht verwebt hatten, begegnete sie 
zu Beginn des 19. Jahrh. bei der historischen 
Rechtsschule (Savigny, Puchta) einer radikalen 
bistorischen Gegenströmung, die das römische Recht 
in seiner antiken Gestalt wieder zu reiner Geltung 
bringen wollte. Durch die großen Privatrechts- 
kodifikationen einzelner Staaten seit der Mitte des 
18. Jahrh. (Bayern 1754, Preußen 1794, Oster- 
reich 1811, Code civil 1804, Badisches Land- 
recht 1810, Sächsisches B.G. B. 1863), des- 
gleichen durch die Schaffung einer einheitlichen 
Wechselordnung (1848) und eines allgemeinen 
deutschen Handelsgesetzbuchs (1861) wurde die 
Privatrechtseinheit mächtig gefördert und infolge 
des Naturrechts und der immer zahlreicher ge- 
wordenen neuzeitlichen Gesetzgebungsfragen die 
allmähliche Emanzipation vom römischen Recht 
erreicht. 
Im 19. Jahrh. entstehen Strafgesetzbücher für 
die einzelnen Staaten, welche nach Errichtung des 
Norddeutschen Bunds und des Deutschen Reichs 
durch ein einheitliches Strafgesetzbuch für das 
Deutsche Reich ersetzt worden sind. 
Durch die Errichtung des Deutschen Reichs 
wurden die politischen Vorbedingungen zur Ein- 
führung eines über das Reichsgebiet sich erstrecken- 
den allgemeinen bürgerlichen Rechts geschaffen. 
Das 1896 erlassene B.G.B. regelt die große 
Masse des bürgerlichen Rechts als Reichsrecht, das 
im Gegensatz zum ehemaligen gemeinen Recht das 
Landesrecht bricht. Das Recht der Gegenwart 
gilt wie einst das alte Stammesrecht der germani- 
schen und fränkischen Zeit gleichmäßig für alle 
Rechtsgenossen, als Standesrecht gilt nur noch fort 
Recht, Deutsches. 
  
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das Recht des hohen Adels. Wenn Handels= und 
Gewerberecht eigne Normen für bestimmte Berufe 
kennen, wenn gewisse Güterarten besonders ge- 
regelt sind, so sind diese Rechtssätze nicht als 
Sonderrechte nach Art der Staatsrechte aufzu- 
fassen, sondern als spezielle Reglung bestimmter 
Rechtsverhältnisse, die den allgemeinen Regeln des 
bürgerlichen Rechts unterworfen bleiben und jeder- 
mann den Eintritt gestatten. Das B.G.B. regelt 
nur Privatrechtsverhältnisse unter Ausschluß des 
öffentlichen Rechts, dabei versteht es unter bürger- 
lichem Recht den Inbegriff derjenigen Normen, 
welche die den Personen als Privatpersonen zu- 
kommende rechtliche Stellung und die Verhältnisse, 
in welchen die Personen als Privatpersonen unter- 
einander stehen, zu regeln bestimmt sind. Die 
Grundlage des B.G.B. bildet das in den deut- 
schen Staaten geltend gewesene Recht, dessen ge- 
meinsame Rechtsgedanken aufgesucht und, soweit 
sie dem gegenwärtigen Rechtsbewußtsein und den 
wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechen, fort- 
gebildet worden sind. Die juristische Behandlung 
des Rechtsstoffs, die juristische Technik steht auf 
dem Boden der modernen deutschen Rechtswissen- 
schaft, die ihren hohen Grad der Entwicklung der 
Grundlage des römischen Rechts wesentlich ver- 
dankt. Der Inhalt des B.G. B. ist im Sachen- 
recht, Erbrecht und im Familienrecht sowie bei 
den juristischen Personen deutschrechtlich, im Recht 
der Schuldverhältnisse vorwiegend römischrechtlich; 
doch ist den modernen sozialen Anschauungen eine 
breite Gasse geöffnet. Den sozialen Bedürfnissen 
kommen die Vorschriften über das Ermessen der 
Gerichte, die Wahrung von Treu und Glauben 
nach der Verkehrssitte, die unsittlichen Geschäfte 
und die unerlaubten Handlungen entgegen. Im 
Obligationenrecht berücksichtigen zahlreiche Be- 
stimmungen berechtigte soziale Forderungen. Den 
Schutz des Erwerbs in gutem Glauben beherrscht 
das Eigentum an beweglichen Sachen, durch das 
ganze Familienleben geht das Bestreben hindurch, 
die rechtliche Stellung der Frauen zu heben. Alle 
Beschränkungen ihrer Geschäftsfähigkeit sind be- 
seitigt; die persönliche Rechtsstellung der Frau in 
der Ehe ist weitgehend gesichert; ihre vermögens- 
rechtliche Stellung ist durch die Gestaltung des 
gesetzlichen Güterrechts dem geltend gewesenen 
Recht gegenüber erheblich verbessert. Im Erbrecht 
ist die Haftung des Erben für die Nachlaßverbind- 
lichkeiten, die Erbengemeinschaft u. a. eigenartig 
geregelt. Zu Unrecht ward dem B.G.B. der Vor- 
wurf gemacht, es sei undeutsch, unsozial und un- 
verständlich. 
Das B. G. B. umfaßt nicht das neben ihm durch 
Sondergesetze geregelte Reichsprivatrecht sowie das- 
jenige Privatrecht, dessen Reglung dem Landes- 
recht vorbehalten worden ist. Die diesbezüglichen 
Artikel des Einführungsgesetzes zum B.G.B. hat 
man die Verlustliste der deutschen Rechtseinheit 
genannt. Sie umfassen gewisse Rechtsverhältnisse 
an Grundstücken, Wasserrecht, Jagd, Fischerei und
	        
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