Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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selben zu fordern. Nun begründet aber nach christ- 
lichem Rechtsbegriff die bloße äußere Form eines 
Gesetzes, sie mag konstitutionell noch so richtig 
sein, durch sich allein noch kein bestehendes, die 
Gewissen bindendes Recht, solange dessen Inhalt 
vor Gottes Heiligkeit objektiv unzulässig (nefas) 
ist. Ein nicht existierendes Recht kann also un- 
möglich eine „rechtsverbindliche“ Wirkung haben, 
es sei denn, daß die peinliche Zwangslage, in 
welche dadurch die Untergebenen vermittels des 
Strafapparats versetzt werden können, eine solche 
genannt werden dürfte. In einem solchen Fall 
kann allerdings für dieselben unter Umständen 
eine ethische Pflicht entstehen, auch einem offenbar 
ungerechten Gesetz, einer rechtlosen Willkür sich zu 
fügen und deren Folgen über sich ergehen zu 
lassen, eher als durch unklugen Widerstand mög- 
licherweise ein größeres Ubel, die Störung der 
öffentlichen Ordnung, zu veranlassen. Darin liegt 
aber keine Anerkennung des vermeintlichen Ge- 
setzes; ganz unabhängig von letzterem ist jene even- 
  
tuelle Pflicht in der christlichen Liebe und Klug= hab 
heit begründet. Dieselbe kann jedoch nur da ein- 
treten, wo es sich um ein „gesetzliches“ Unrecht 
handelt, dem man sich ohne Verletzung des Ge- 
wissens unterziehen darf, niemals aber, wo das 
„formelle Recht“ an das Gewissen der Beteiligten 
moralisch unmögliche Zumutungen stellt. Selbst- 
verständlich ist in diesem Fall die unbedingte Ab- 
lehnung derselben sittlich geboten, wie peinlich auch 
die Folgen sein mögen. Das alles entspricht genau 
dem vom hl. Thomas für dergleichen Vorkomm- 
nisse klar aufgestellten Rechtsgrundsatz (a. a. O. 
„ 1, d. 96, a. 4); der irreführende Aus- 
druck „formelles Recht“ im heutigen Sinn war 
ihm allerdings noch nicht bekannt. 
3. Der ideale Zweck und der Ursprung des 
Rechts begründen seine objektive Heiligkeit und 
seinen wesentlich sittlichen Charakter. Die Rechts- 
ordnung ist die von Gottes heiligem Willen aus- 
gehende sittliche Ordnung selbst, nicht zwar nach 
ihrem ganzen Umfang, sondern speziell nur in Be- 
ziehung auf den Bereich der objektiven Gerechtig- 
keit. Hier liegt ganz eigentlich das unterscheidende 
Merkmal des Rechtsbegriffs im Sinn des Christen- 
tums und jeder gesunden Rechtsphilosophie gegen- 
über den sich widersprechenden Fälschungen des- 
selben von seiten der neueren, vom Christentum 
absehenden Rechtssysteme. Der gemeinsame ne- 
gative Charakter aller dieser Irrtümer besteht in 
der Ablösung des Rechts von jedem über dem 
Menschen stehenden Gottesgesetz. Auf dieser 
Grundlage wird sodann das Recht entweder zu 
einer mechanischen Zwangseinrichtung herab- 
gewürdigt, einzig zur Lösung des Problems, die 
individuelle Freiheit als Selbstzweck allen gleich- 
zeitig zu ermöglichen (Kant), oder es wird der 
pantheistisch vergötterte Staat zur Quelle alles 2, 2 
Rechts gemacht und so die persönliche Freiheit 
samt dem Gewissen der Staatsangehörigen einer 
mit Macht ausgerüsteten menschlichen Willkür aus- 
Recht und Rechtsgesetz. 
  
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geliefert (Hegel), oder endlich, man läßt nach der 
Methode des neuesten wissenschaftlichen Atheismus 
(Darwin-Spencer) die Rechtsgewohnheiten und 
Rechtsideen überhaupt als ein bloß tatsächliches 
Resultat auf Grund des allgemein Nützlichen aus 
der menschlichen Entwicklung hervorgehen, und 
dann hat das Recht seinen einzigen Maßstab im 
Utilitarismus. — So steht der christliche Rechts- 
begriff allein da nicht nur als das von Gott ge- 
setzte sittliche Fundament aller menschenwürdigen 
organischen Gesellschaftsordnung, sondern zugleich 
als der mächtigste Schutzwall der persönlichen 
Würde und Freiheit des Menschen gegen die An- 
maßungen menschlicher Willkür. Aus dem christ- 
lichen Rechtsbegriff ist überdies folgerichtig auch 
die christliche Staatsidee hervorgegangen; ebenso 
ließe sich unschwer nachweisen, daß anderseits alle 
von ihr abweichenden Staatsideen, die im Verlauf 
der Geschichte in Erscheinung traten, ihren Aus- 
gangspunkt in einer verhängnisvollen Fälschung 
oder Verstümmlung jenes Rechtsbegriffs gehabt 
aben. 
4. Es erübrigt noch, eine andere, ebenfalls 
charakteristische Eigenschaft des Rechts zu er- 
wähnen, welche scheinbar, aber auch nur scheinbar, 
dem bisher betonten sittlichen Charakter entgegen- 
steht, nämlich seine äußere Erzwingbarkeit. 
Gehören auch Recht und Moral nach dem Ge- 
sagten untrennbar zu der einen sittlichen Welt- 
ordnung, und können sie somit niemals, ohne die 
Einheit der letzteren aufzuheben, als zwei unab- 
hängig koordinierte und selbständig nebeneinander 
bestehende Gebiete betrachtet werden, so ist dessen- 
ungeachtet das eigentliche Rechtsgebiet von dem 
rein sittlichen wohl zu unterscheiden. In dem 
ersteren sind, streng genommen, auch jene recht- 
lichen Beziehungen noch nicht eingeschlossen, welche 
sich mehr auf Billigkeit (aequitas) als auf einen 
individuell bestimmten, faßbaren Rechtsgrund 
stützen, wie dies vielfach bezüglich der Anforde- 
rungen der iustitia distributiva der Fall ist. 
Sie gehören zwar zum Rechtsgebiet, aber als 
„unvollkommenes“ Recht. Dem vollkommenen 
Recht nun ist es eigen, daß es stets die strenge 
Anforderung auf objektive Verwirklichung und 
darum die Erzwingbarkeit in sich trägt, während 
dies beim rein Sittlichen als solchem nicht der 
Fall ist. Das haben auch die Alten nicht weniger 
als die Neueren sehr wohl gekannt und betont, 
wenn sie das Recht als iustum oder obiectum 
justitiae definierten. Nicht von der Tugend der 
Gerechtigkeit, wie man ihnen fälschlich vorge- 
worfen hat, haben sie den Rechtsbegriff abgeleitet, 
sondern von dem, was objektiv der Gerechtigkeit 
entspricht und deshalb, wie ausdrücklich aner- 
kannt wird, auch dem widerstrebenden Willen 
gegenüber erzwingbar ist (St Thomas a. a. O. 
, 2, d. 57, a. 1; 2, 1, d. 96, a. 5: Lex 
de sui ratione . habet vim coactivam). 
Ebensowenig mißkannte man die tiefere philo- 
sophische Begründung der Erzwingbarkeit. Die- 
 
	        
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