Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Landgerichten in erster Instanz getroffenen Vor- 
schriften, während in Osterreich sich das Verfahren 
entweder auf eine Vorprüfung vor dem Berufungs- 
gericht ohne mündliche Berufungsverhandlung 
(unvollständiges Berufungsverfahren) beschränkt 
oder sich an das Vorverfahren eine mündliche Be- 
rufungsverhandlung auf Grund des Sachvortrags 
eines Mitglieds des Senats als Berichterstatters 
und der sich nun folgenden Vorträge der Parteien 
mit oder ohne Beweisaufnahme anschließt (voll- 
ständiges Berufungsverfahren). Auch in letzterem 
kann die Berufungsentscheidung in nicht öffent- 
licher Sitzung und ohne mündliche Berufungs- 
verhandlung ergehen, wenn beide Parteien auf 
diese verzichten. Ein Kontumazialverfahren be- 
steht in dem österreichischen Berufungsverfahren 
nicht. Die Berufungsurteile sind vollstreckbar. 
Die Revision beruht als ausschließliche Nach- 
prüfung der Rechtsfrage auf der von dem Be- 
rufungsgerichtfestgestellten Urteilsgrundlage; neues 
tatsächliches Vorbringen ist nur statthaft, um ent- 
weder eine Gesetzesverletzung in Bezug auf das 
Verfahren darzutun, oder um die Tatsachen zu be- 
zeichnen, welche im Berufungsurteil unter Ver- 
letzung des Gesetzes festgestellt, übergangen oder 
als vorgebracht angenommen sind. Die Nach- 
prüfung ist aber nicht auf die Prüfung der Rich- 
tigkeit der Rügen des Revisionsklägers beschränkt, 
deren bestimmte Angabe nicht wesenklich ist, son- 
dern sie hat sich auf die gesamte Rechtsanwendung 
zu erstrecken, soweit diese auf das Berufungsurteil 
oder den angefochtenen Teil von Einfluß war. 
Auf die Ausgestaltung der Revision ist der fran- 
zösische pourvoi en cassation von Einfluß ge- 
wesen, durch den von Justizaufsichts wegen gesetz- 
widrige Urteile durch den cour de cassation ver- 
nichtet werden. Dieser ist nicht Organ der Rechts- 
pflege, er wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft, 
des ministere public tätig, selbst wenn die Par- 
teien sich beruhigen, dann aber nur im Interesse 
des Gesetzes ohne praktische Wirkung für die Par- 
teien. Zur Aufrechterhaltung einer einheitlichen 
Rechtsprechung ist der pourvoi en cassation 
durch die Vorprüfung der chambre des requétes 
so eingeschränkt, daß ein Senat, die chambre 
eiyil, alle Entscheidungen fällen kann. Im Deut- 
schen Reich unterliegen die Urteile der Oberlandes- 
gerichte in der Berufungsinstanz in nicht ver- 
mögensrechtlichen und in einigen fiskalischen Sachen 
sowie bei Syndikatsklagen unbeschränkt, in ver- 
mögensrechtlichen Sachen nur bei Beschwerde- 
gegenständen von mehr als 4000 M der An- 
fechtung durch die Revision, gleichgültig ob 
durch sie die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt 
oder abgeändert worden ist. In Osterreich ist die 
Revision nur gegen die Entscheidung des Be- 
rufungsgerichts in Bagatellsachen (bis zu 100 K) 
ausgeschlossen. Die Entscheidung über die im 
Deutschen Reich binnen eines Monats, in Oster- 
reich binnen 14 Tagen seit der Zustellung des 
Berufungsurteils einzulegende Revision ergeht hier 
Rechtsmittel. 
  
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in nicht öffentlicher Sitzung ohne vorhergehende 
mündliche Verhondlung, dort auf Grund münd- 
licher öffentlicher Verhandlung. Erfolg hat die 
Revision nur, wenn die vorgefallene Gesetzesver- 
letzung für das Berufungsurteil oder eine ihm 
vorausgegangene Entscheidung ursächlich war und 
wenn die Gesetzesverletzung die Partei auch be- 
schwert, so daß der Gesetzesverletzung ungeachtet 
die Revision zurückzuweisen ist, wenn die richtige 
Rechtsanwendung zu demselben Urteil führt. Das 
Revisionsgericht hat in der Regel in der Sache 
selbst zu entscheiden. Doch kann die Zurück- 
verweisung der Sache an das Berufungsgericht 
oder in Osterreich auch an das Erstinstanzgericht 
geboten sein; in diesem Fall stellt das Revisions- 
urteil bindend den Rechtssatz auf, welchen das 
Untergericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen 
hat. Doch wirkt der in dem Revisionsurteil auf- 
gestellte Rechtssatz bindend nur für die einzelne 
Sache, nicht allgemein. Allgemein geltend wird 
er nur auf Grund seiner richtigen Begründung. 
Die Wahrung des Grundsatzes der Unmittelbar- 
keit der Verhandlung auch in der Revisionsinstanz, 
welche den Vortrag des Streitfalls durch die Par- 
teivertreter voraussetzt, hat im Deutschen Reich zu 
einer dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der 
Rechtsprechung widerstrebenden Ausdehnung des 
Reichsgerichts geführt, das zurzeit aus sieben Zivil- 
senaten zusammengesetzt ist, so daß die Möglichkeit 
vorliegt, daß dieselbe Rechtsfrage gleichzeitig von 
drei Senaten zu entscheiden ist und verschieden ent- 
schieden wird. Die sieben Senate sind außerdem 
wegen der großen Zahl der Revisionen überbürdet. 
Die nicht seltene Abänderung der die Berufung 
zurückweisenden Berufungsurteile durch das Reichs- 
gericht läßt es untunlich erscheinen, die Revision 
auszuschließen, wenn zwei gleichlautende Vorent- 
scheidungen vorliegen. Die Beschränkung der Nach- 
prüfung des Berufungsurteils auf die von der 
Partei gerügten Rechtsverletzungen widerspricht 
der Stellung des Revisionsgerichts, das die Rechts- 
fragen selbständig und frei muß prüfen und dem 
Recht zum Durchbruch verhelfen können, auch wenn 
die Partei die Rechtsverletzung des Instanzrichters 
nicht erkannt hat. Die Abhängigmachung der Zu- 
lässigkeit der Revision von einem Wertbetrag des 
Beschwerdegegenstands enthält zwar eine Benach- 
teiligung der Parteien, welche um einen Gegen- 
stand von geringerem Wert streiten, aber diese Be- 
nachteiligung steht in keinem Verhältnis zur Not- 
wendigkeit der Wahrung der Rechtseinheit durch 
die Rechtsprechung und sie ist um deswillen von 
geringer praktischer Tragweite, weil alle Rechts- 
fragen bei den höheren Wertobjekten gleichfalls zur 
Entscheidung gelangen, so daß die Instanzgerichte 
für die nichtrevisibeln Objekte eine ausreichende 
Direktive erhalten. Bei der Höhe der Kosten des 
Revisionsverfahrens kann den wohlhabenden Par- 
teien überlassen werden, die Kosten der Wahrung 
der Einheitlichkeit der Rechtsauslegung für die 
Allgemeinheit zu tragen. 
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