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1892) vertritt die Ansicht, daß bei Regentschaft
und Interregnum ganz verschiedene grundsätzliche
Voraussetzungen obwalten.
Die außerordentliche Regentschaft
oder Regierungsverwesung tritt dann ein, wenn
der Monarch an der Ausübung der Regierung
dauernd verhindert ist aus irgend einer Ursache.
Während noch die Goldene Bulle von 1356 in
c. 24, § 3 für die Kurfürstentümer bestimmt
haite: Primogenitus fllius succedat, nisi for-
sitan mente captus, fatuus seu alterius fa-
mosi et notabilis defectus exsisteret, propter
duem non deberet seu posset hominibus
principari, hat das moderne Staatsrecht den
Grundsatz zur Herrschaft gelangen lassen, daß Re-
gierungsunfähigkeit wegen körperlicher odergeistiger
Mängel und Gebrechen kein Sukzessionshindernis
bilde. In Württiemberg schloß aber noch das
Hausgese, von 1808 wegen körperlicher oder
geistiger Gebrechen vom Thron aus, eine Bestim-
mung, die in der Verfassung nicht enthalten ist.
Nur das braunschweigische Staatsrecht folgt noch
der alten gemeinrechtlichen Auffassung, nach wel-
cher ein unheilbares und Regierungsunfähigkeit
bedingendes körperliches oder geistiges Gebrechen
den zur Thronfolge Berufenen dauernd ausschließt
und die Thronfolge weiter überträgt. Dieser
Grundsatz hat noch im Bericht der Verfassungs-
kommission des Landtags vom 9. März 1874
ausdrückliche Anerkennung gefunden. Ein Unter-
schied zwischen Verhinderungsursachen, welche
beim Anfall der Krone bereits vorliegen, und
solchen, welche erst später eintreten, besteht nir-
gends. Aber nicht in jedem Fall der Behinderung
oder Regierungsunfähigkeit tritt die Notwendig-
keit der Regentschaft ein. Die Verfassungen einer
Reihe deutscher Staaten bestimmen ausdrücklich,
daß die Regentschaft nur Platz greifen soll, wenn
die Ursache, welche dem Herrscher die Ausübung
der Regierung unmöglich macht, „auf längere
Zeit“ wirkt und wenn außerdem „der Monarch
für die Verwaltung des Reichs nicht selbst Vor-
sorge getroffen hat oder treffen kann“ (so Bayern
und Sachsen, während die preußische und würt-
tembergische Verfassungsurkunden sich nicht genauer
auslassen). Die Regierungsunfähigkeit ist (nach
v. Seydel a. a. O. 34) die „Unfähigkeit, die
Willensakte selbständig vorzunehmen, die zur Re-
gierung erforderlich sind. Geisteskrankheit macht
daher unbedingt regierungsunfähig. Körperliche
Gebrechen dagegen können niemals unmittelbare,
sondern nur mittelbare Regierungsunfähigkeit be-
gründen. Das letztere ist dann der Fall, wenn
körperliche Gebrechen von der Art sind, daß dem
Herrscher die physischen Voraussetzungen fehlen,
einen selbständigen Herrscherwillen zu fassen oder
zu äußern". Ferner sind hierher zu rechnen die
Fälle der Kriegsgefangenschaft, Verschollenheit,
dauernde Abwesenheit.
83. Subjekt der Regentschaft. Die Be-
rufung zur Regentschaft ist in einigen Verfassungen
Regentschaft.
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geregelt und zwar so, daß der der Krone zunächst
stehende volljährige und regierungsfähige Agnat
als der geborne Regent erscheint, so z. B. in
Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg; in
Bayern jedoch nur, wenn nicht durch königliche
Anordnung ein anderer Prinz des königlichen
Hauses im Hinblick auf einen bestimmten zu er-
wartenden Fall zum Regenten bestellt ist. Ist eine
derartige Bestimmung seitens des verstorbenen
oder abtretenden Landesherrn nicht getroffen wor-
den oder entbehrt dieselbe der rechtlichen Wirkung,
so ist zumeist der nächste Agnat des regierungs-
unfähigen Thronfolgers berufen, d. h. dasjenige
Mitglied der fürstlichen Familie, welches bei
Nichtvorhandensein des Minderjährigen nach der
Thronfolgeordnung den Thron besteigen würde,
Regierungsfähigkeit natürlich vorausgesetzt. Nur
in wenigen Staaten wird diesem nächstberechtigten
Agnaten die leibliche Mutter des Landesherrn vor-
gezogen. So in Schaumburg-Lippe, Reuß j. L.,
Sachsen-Altenburg. Ist kein zur Reichsverwesung
geeigneter Agnat vorhanden, so gebührt die Re-
gentschaft der verwitweten Königin (Bayern)
oder der Mutter des Minderjährigen, eventuell
der Großmutter väterlicherseits (Württemberg,
Braunschweig); subsidiär sind in Bayern die
Kronbeamten berufen. In Preußen haben in Er-
manglung eines regierungsfähigen Agnaten die
Kammern den Regenten zu wählen, ohne dabei
auf einen bestimmten Kreis von wählbaren Per-
sonen beschränkt zu sein.
Viel erörtert ist die Frage der Regentschaft im
Deutschen Reich. Nach Art. 11 der Reichs-
verfassung und dessen Vorgeschichte sind die Be-
stimmungen über die Regentschaft ebenso wie die-
jenigen über die kaiserliche Thronfolge im Reich
in erster Linie als Sätze des preußischen Staats-
rechis zu erachten, sohin eine res interna des
preußischen Staats. Die Regentschaft in Preußen
umschließt auch das mit Preußen verfassungs-
gemäß verknüpfte Präsidialrecht im Deutschen
Reich. Der Regent von Preußen hat also die
kaiserlichen Regierungsfunktionen wahrzunehmen,
ist also in diesem Sinn Kaiser, wenn ihm auch der
Kaisertitel nicht zukommt. Eine Mitwirkung des
Bundesrats oder des Reichstags bei Feststellung
der Notwendigkeit der Regentschaft oder bei der
Bestimmung der Person des Regenten ist sonach
ausgeschlossen. Vgl. hierzu: Verordnungen über
die Einsetzung und Beendigung einer Regierungs-
stellvertretung im Reich und in Preußen vom
4. Juni und 5. Dez. 1878 (R.G. Bl. 101).
4. Einleitung der Regentschaft, Fest-
stellung des Regentschaftsfalls. Für
die Einleitung der Regentschaft bzw. für die Fest-
stellung des Regentschaftsfalls schreiben die Ver-
fassungen der deutschen Staaten ein besonderes,
rechtsförmliches Verfahren vor. In Preußen
steht nach Art. 56 u. 57 der Verfassungsurkunde
die Initiative dem gebornen Regenten, also dem
der Krone zunächst stehenden volljährigen und