Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

465 
1892) vertritt die Ansicht, daß bei Regentschaft 
und Interregnum ganz verschiedene grundsätzliche 
Voraussetzungen obwalten. 
Die außerordentliche Regentschaft 
oder Regierungsverwesung tritt dann ein, wenn 
der Monarch an der Ausübung der Regierung 
dauernd verhindert ist aus irgend einer Ursache. 
Während noch die Goldene Bulle von 1356 in 
c. 24, § 3 für die Kurfürstentümer bestimmt 
haite: Primogenitus fllius succedat, nisi for- 
sitan mente captus, fatuus seu alterius fa- 
mosi et notabilis defectus exsisteret, propter 
duem non deberet seu posset hominibus 
principari, hat das moderne Staatsrecht den 
Grundsatz zur Herrschaft gelangen lassen, daß Re- 
gierungsunfähigkeit wegen körperlicher odergeistiger 
Mängel und Gebrechen kein Sukzessionshindernis 
bilde. In Württiemberg schloß aber noch das 
Hausgese, von 1808 wegen körperlicher oder 
geistiger Gebrechen vom Thron aus, eine Bestim- 
mung, die in der Verfassung nicht enthalten ist. 
Nur das braunschweigische Staatsrecht folgt noch 
der alten gemeinrechtlichen Auffassung, nach wel- 
cher ein unheilbares und Regierungsunfähigkeit 
bedingendes körperliches oder geistiges Gebrechen 
den zur Thronfolge Berufenen dauernd ausschließt 
und die Thronfolge weiter überträgt. Dieser 
Grundsatz hat noch im Bericht der Verfassungs- 
kommission des Landtags vom 9. März 1874 
ausdrückliche Anerkennung gefunden. Ein Unter- 
schied zwischen Verhinderungsursachen, welche 
beim Anfall der Krone bereits vorliegen, und 
solchen, welche erst später eintreten, besteht nir- 
gends. Aber nicht in jedem Fall der Behinderung 
oder Regierungsunfähigkeit tritt die Notwendig- 
keit der Regentschaft ein. Die Verfassungen einer 
Reihe deutscher Staaten bestimmen ausdrücklich, 
daß die Regentschaft nur Platz greifen soll, wenn 
die Ursache, welche dem Herrscher die Ausübung 
der Regierung unmöglich macht, „auf längere 
Zeit“ wirkt und wenn außerdem „der Monarch 
für die Verwaltung des Reichs nicht selbst Vor- 
sorge getroffen hat oder treffen kann“ (so Bayern 
und Sachsen, während die preußische und würt- 
tembergische Verfassungsurkunden sich nicht genauer 
auslassen). Die Regierungsunfähigkeit ist (nach 
v. Seydel a. a. O. 34) die „Unfähigkeit, die 
Willensakte selbständig vorzunehmen, die zur Re- 
gierung erforderlich sind. Geisteskrankheit macht 
daher unbedingt regierungsunfähig. Körperliche 
Gebrechen dagegen können niemals unmittelbare, 
sondern nur mittelbare Regierungsunfähigkeit be- 
gründen. Das letztere ist dann der Fall, wenn 
körperliche Gebrechen von der Art sind, daß dem 
Herrscher die physischen Voraussetzungen fehlen, 
einen selbständigen Herrscherwillen zu fassen oder 
zu äußern". Ferner sind hierher zu rechnen die 
Fälle der Kriegsgefangenschaft, Verschollenheit, 
dauernde Abwesenheit. 
83. Subjekt der Regentschaft. Die Be- 
rufung zur Regentschaft ist in einigen Verfassungen 
Regentschaft. 
  
466 
geregelt und zwar so, daß der der Krone zunächst 
stehende volljährige und regierungsfähige Agnat 
als der geborne Regent erscheint, so z. B. in 
Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg; in 
Bayern jedoch nur, wenn nicht durch königliche 
Anordnung ein anderer Prinz des königlichen 
Hauses im Hinblick auf einen bestimmten zu er- 
wartenden Fall zum Regenten bestellt ist. Ist eine 
derartige Bestimmung seitens des verstorbenen 
oder abtretenden Landesherrn nicht getroffen wor- 
den oder entbehrt dieselbe der rechtlichen Wirkung, 
so ist zumeist der nächste Agnat des regierungs- 
unfähigen Thronfolgers berufen, d. h. dasjenige 
Mitglied der fürstlichen Familie, welches bei 
Nichtvorhandensein des Minderjährigen nach der 
Thronfolgeordnung den Thron besteigen würde, 
Regierungsfähigkeit natürlich vorausgesetzt. Nur 
in wenigen Staaten wird diesem nächstberechtigten 
Agnaten die leibliche Mutter des Landesherrn vor- 
gezogen. So in Schaumburg-Lippe, Reuß j. L., 
Sachsen-Altenburg. Ist kein zur Reichsverwesung 
geeigneter Agnat vorhanden, so gebührt die Re- 
gentschaft der verwitweten Königin (Bayern) 
oder der Mutter des Minderjährigen, eventuell 
der Großmutter väterlicherseits (Württemberg, 
Braunschweig); subsidiär sind in Bayern die 
Kronbeamten berufen. In Preußen haben in Er- 
manglung eines regierungsfähigen Agnaten die 
Kammern den Regenten zu wählen, ohne dabei 
auf einen bestimmten Kreis von wählbaren Per- 
sonen beschränkt zu sein. 
Viel erörtert ist die Frage der Regentschaft im 
Deutschen Reich. Nach Art. 11 der Reichs- 
verfassung und dessen Vorgeschichte sind die Be- 
stimmungen über die Regentschaft ebenso wie die- 
jenigen über die kaiserliche Thronfolge im Reich 
in erster Linie als Sätze des preußischen Staats- 
rechis zu erachten, sohin eine res interna des 
preußischen Staats. Die Regentschaft in Preußen 
umschließt auch das mit Preußen verfassungs- 
gemäß verknüpfte Präsidialrecht im Deutschen 
Reich. Der Regent von Preußen hat also die 
kaiserlichen Regierungsfunktionen wahrzunehmen, 
ist also in diesem Sinn Kaiser, wenn ihm auch der 
Kaisertitel nicht zukommt. Eine Mitwirkung des 
Bundesrats oder des Reichstags bei Feststellung 
der Notwendigkeit der Regentschaft oder bei der 
Bestimmung der Person des Regenten ist sonach 
ausgeschlossen. Vgl. hierzu: Verordnungen über 
die Einsetzung und Beendigung einer Regierungs- 
stellvertretung im Reich und in Preußen vom 
4. Juni und 5. Dez. 1878 (R.G. Bl. 101). 
4. Einleitung der Regentschaft, Fest- 
stellung des Regentschaftsfalls. Für 
die Einleitung der Regentschaft bzw. für die Fest- 
stellung des Regentschaftsfalls schreiben die Ver- 
fassungen der deutschen Staaten ein besonderes, 
rechtsförmliches Verfahren vor. In Preußen 
steht nach Art. 56 u. 57 der Verfassungsurkunde 
die Initiative dem gebornen Regenten, also dem 
der Krone zunächst stehenden volljährigen und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.