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wachgerufen hatten. Zur Abwehr solcher An-
griffe traten sofort am Tag nach Eröffnung des
Landtags (830. Nov. 1852) 63 Abgeordnete der
Zweiten Kammer zu einer geschlossenen Partei
unter dem Namen „Katholische Fraktion“ und
der Führerschaft der Brüder Reichensperger ohne
Stimmzwang zusammen. Bald wurde die Partei
nach ihrem Führer „Fraktion Reichensperger“ ge-
nannt, und ihr Programm war gleichlautend mit
dem, was die Gebrüder Reichensperger seit ihrem
politischen Auftreten auf ihre Fahne geschrieben
hatten: „Wahrung der Freiheit und der Rechte
der katholischen Kirche, Eintreten für eine auf-
richtige Durchführung und Beobachtung der Pari-
tät bei Besetzung der Staatsstellen, Streben nach
konfessionellem Volksunterricht.“ Es bedurfte der
erprobten Vermittlungsgabe, welche dem ölteren
der beiden Führer eigen war, die aus den ver-
schiedenartigsten politischen Elementen zusammen-
gesetzte Fraktion in den Kämpfen der 1850er Jahre
zu einigen. August Reichensperger an ihrer Spitze
hat die von der reaktionären Rechten drohende
Verkümmerung verfassungsmäßiger Freiheit be-
kämpft und der durch die Regierung beliebten un-
paritätischen Behandlung des katholischen Volks-
teils gewehrt. Er machte 1853 die Raumer-West-
phalenschen Erlasse unschädlich, trat 1854 für die
erhöhte Preßfreiheit ein, befürwortete 1855 den
„Antrag Otto“, rügte die Zurücksetzung der Ein-
gebornen und der Katholiken bei Besetzung der
Landratestellen in den westlichen Provinzen, be-
kämpfte die Wahlmache der Regierung, forderte
1856 die Gründung einer vollständigen katho-
lischen Hochschule Münster, bekämpfte 1857
den Entwurf eines Ehescheidungsgesetzes für die
Monarchie (Brief an Montalembert: „Der „evan-
gelische Staat“ hat durch den Ausgang der Debatte
eine empfindliche Niederlage erlitten"), vertrat
1858 das verfassungsmäßige Recht der Erteilung
des Religionsunterrichts in den freien religiösen
Gemeinden („Jedem sein Recht!“) und befürwor-
tete die Verbesserung der Beamtengehälter. Das
gemeinsam mit Peter Reichensperger verfaßte Pro-
gramm für die Wahlen 1858 sprach dem Staat
Preußen „die schwierige, aber hohe Aufgabe zu,
den konfessionellen Gegensatz zu versöhnen, der
na Gottes Zulassung unser Volk in zwei Hälften
teilt“.
Durch den Ausfall der Neuwahlen im Nov.
1858, welche für die bisher herrschenden Fraktionen
der Rechten eine vollständige Niederlage bedeuteten,
war eine Veränderung in der Frontstellung der
von August Reichensperger geführten Fraktion (seit
1859 „Fraktion des Zentrums“ /„Katholische
Fraktion“ J, seit 7. Febr. 1860 „Zentrum") ge-
geben. Mehr und mehr trat als Aufgabe hervor,
wie früher die selbstherrlichen Bestrebungen der
Regierung, nunmehr die Parteien zu bekämpfen,
welche im Bewußtsein ihrer Übermacht rücksichts-
los die Parlamentsherrschaft mißbrauchten, um
die Krone zur Erfüllung ihrer Forderungen zu
Reichensperger, August.
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zwingen. Die hier allmählich sich vollziehende An-
näherung des Zentrums an die Regierung raubt
Reichensperger und seinen Freunden einen großen
Teil ihrer Volkstümlichkeit. Der Fortschrittstaumel
dezimiert allmählich die Partei und Fraktion.
Nach halbjährigem Fernbleiben tritt Reichens-
perger im Frühjahr 1862 wieder in den Landtag
ein. Häufiger Angriffe seitens der eignen Partei-
organe ungeachtet, nimmt er in dem zwischen Re-
gierung und Landtag ausgebrochenen „Konflikt“
eine vermittelnde Stellung ein; mit Peter Reichens-
perger und 12 Fraktionsgenossen stellt er den An-
trag, die Regierung möge für die ohne vorherige
Zustimmung der Landesvertretung gemachten Aus-
gaben Indemnitätserklärung nachsuchen oder doch
ihre desfallsige Verpflichtung anerkennen. Dieser
wahrhaft staatsmännische Vorschlag, wodurch so-
wohl die Verfassungsfrage erledigt als die Bahn
zur weiteren Verständigung für die künftig zu
machenden Bewilligungen geebnet wurde, fand
keine Annahme. „Wir sind sozusagen die einzigen
Stützen der Regierung in der Kammer. Zweifels-
ohne wird der katholischen Sache abermals schlecht
dafür gelohnt werden. Allein... Gothaer und
Demokraten sind noch gefährlicher für Recht und
Freiheit.“ Die Folgezeit hat gelehrt, wie richtig
das Vorgehen des Politikers war (Bismarcks
Indemnitätsantrag 1866) und wie begründet seine
Vorhersage (Kulturkampf). Die Haltung des
Zentrums in der Konfliktszeit war dem späteren
Kanzler dermaßen aus dem Gedächtnis geschwun-
den, daß er noch kurz vor seinem Tod schrieb:
„Die Fraktion der beiden Reichensperger gehörte
schon lange vor 1871, ohne daß deshalb die
Führer persönlich in den Ruf des Händelmachens
verfielen, dauernd der Opposition gegen die Re-
gierung des evangelischen Königshauses an“ (Ge-
danken und Erinnerungen II 135; ähnlich in der
Unterredung Bismarcks mit v. Hertling bei Po-
schinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier
1321. Wegen der Stellungnahme von F. K. Kraus
hierzu vgl. dessen unten angeführte Schrift Nr 201,
S. 3). Anfeindungen der eignen Parteigenossen
und häusliche Verhältnisse veranlaßten ihn im
Herbst 1863, dem parlamentarischen Leben zu
entsagen. Sein „Rückblick auf die letzten Sessionen“
legt Zeugnis ab von der inmitten der allgemeinen
Verwirrung bewahrten Ruhe des Urteils. Eine
kurze vorher erschienene Schrift: „Phrasen und
Schlagwörter“, beleuchtete in geistreicher Weise
den Mißbrauch, welchen der Liberalismus mit der
Sprache trieb, und gab mit der Waffe der Satire
„den Worten ihre Bedeutung wieder“. Dies
Werkchen fand durch mehrere Auflagen große
Verbreitung, auch in fremden Sprachen. — Die
selbst im ärgsten Parlamentsfeuer nie ganz unter-
brochene kunstschriftstellerische Tätigkeit ward nun-
mehr wieder eifrig aufgenommen.—Gleich Janssen
ist Reichensperger der Meinung, daß der Zeit-
punkt zur Proklamierung der päpstlichen Unfehl-
barkeit ungünstig gewählt sei, unterwirft sich jedoch