Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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eigentlichen Zentrum bei den Altliberalen und 
Indifferenten (Teilnahme am „Laienkonzil“ vom 
17. Juni 1869). Im preußischen Landtag wird 
die Beratung des von ihm unterzeichneten Antrags, 
über die Klosterpetitionen zur Tagesordnung über- 
zugehen, von den herrschenden Parteien hinter- 
trieben (1870), nachdem ein Jahr zuvor sein An- 
trag zugunsten von drei Franziskanerklöstern in 
Posen und Westpreußen abgelehnt worden war. 
Der nach 1870 gegen die Kirche in Preußen- 
Deutschland entfesselte Sturm hatte seine Vor- 
boten schon vorausgesandt, und so war es Abwehr 
wie 1852, als Reichensperger sich mit v. Savigny 
zur Gründung einer „politischen Fraktion christ- 
lich-konservativer Richtung“ einigte und zur Vor- 
besprechung vom 11. Dez. 1870 mit v. Savigny 
und v. Kehler einlud. Die Bildung einer „katho- 
lischen Fraktion“ bezeichnete er in jenen 
Tagen als „ein Unrecht und ein Unglück“. An 
der Gründung des Zentrums selbst nahm er, 
durch Krankheit verhindert, nicht teil. Auch im 
Reichstag 1871 wird die Fraktion errichtet. Hier 
stellt Reichensperger zu Art. 2 der Verfassung den 
Antrag, gewisse Grundrechte in Bezug auf Presse, 
Vereinswesen und Selbständigkeit der Kirchen 
aufzunehmen. Die Folge sind heftige Angriffe der 
Gegner, was ihn nicht hindert, in der Fraktion 
die Spende von vier Mill. Talern an die Heer- 
führer derart energisch zu befürworten, daß die 
Fraktion beinahe gesprengt worden wäre. In 
dem nun entbrennenden weltgeschichtlichen Kampf 
zwischen Staat und Kirche steht Reichensperger, 
schon an der Schwelle des Greisenalters, in der 
vordersten Reihe. Manche der hier in Reichs= und 
Landtag mit der vollen Wucht religiöser Über- 
zeugung und allem Rüstzeug staatsrechtlichen und 
kanonischen Wissens gehaltenen Reden sind wahre 
Meisterwerke parlamentarischer Beredsamkeit. Er 
bekämpft das Schulaussichtsgesetz (8. Febr. 1872), 
greift machtvoll in die Jesuitengesetz-Debatte ein 
(16. Mai, 19. Juni 1872), verteidigt die preu- 
ßische Verfassung, 88 15 und 18, gegen Gneist 
und Virchow (30. Jan. 1873). Bald darauf 
trifft ihn der Tod seines ältesten Sohnes August. 
Seine Stellung zur Ausweisung der Jesuiten legt 
er noch in einer besondern Broschüre dar: „Über 
das Verhältmis des Staats zur Kirche“, Berlin 
1872. Er erklärt sich gegen den parlamentarischen 
Streik des Zentrums, stellt und vertrift einen An- 
trag auf Rückkehr zu der früheren, bewährten 
Kirchenpolitik, dessen Anzeige (Dez. 1873) mit 
Hohngelächter beantwortet wird, spricht gegen die 
Etatsforderung für den „neuen“ katholischen Bi- 
schof, gegen das erste deutsche Septennat (Ent- 
wicklung des Königtums zum Imperatorentum), 
gegen das Priesterausweisungsgesetz, fertigt 1875 
bis 1876 das Manufkript zur Schrift „Kultur- 
kampf oder Friede zwischen Staat und Kirche"“, 
Berlin 1876, in welcher er einen „faulen Frie- 
den“ zurückweist. Gegenüber v. Sybel, welcher 
die Einführung der Selbstverwaltungsgesetze in 
  
Reichensperger, Peter Franz. 
  
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den westlichen Provinzen hintertrieben hatte, er- 
innerte Peter Reichensperger an das Wort Fried- 
rich Wilhelms III. bei Besitzergreifung der Rhein- 
lande: „Die Rheinprovinz ist deutsches Urland, 
sie ist die Vormauer der Freiheit, der Selbständig- 
keit des Vaterlands.“ Innerhalb der Fraktion 
gibt er die erste Anregung zur „Franckensteinschen 
Klausel“ (1879), verfaßt die „Erlebnisse eines 
allen Parlamentariers im Revolutionsjahr 1848“, 
Berlin 1882, stimmt mit Windthorst gegen Bruder 
August für den westfälischen Kanal (1883), so- 
wie mit August und v. Franckenstein gegen die 
Mehrheit des Zentrums für Verlängerung des 
Sozialistengesetzes (1884). Nach der denkwür- 
digen Septennatswahl (1887) stimmt er mit fünf 
Fraktionsgenossen in Anbetracht der besondern 
Sachlage und unter Wahrung seines prinzipiellen 
Standpunkts für das Septennat, während die 
übrige Fraktion sich der Stimmabgabe enthält. 
1887 schreibt er seine Broschüre „Die Gemein- 
schädlichkeit der in Aussicht gestellten Erhöhung 
der Kornzölle“, stimmt dann aber gleichwohl im 
Reichstag mit dem Zentrum für den 5-M-Zoll, 
um zu verhindern, daß bei der Ablehnung des 
Gesetzes und eventuellen Auflösung des Reichstags 
nicht eine noch höhere Verzollung des Getreides 
beliebt werde. 
Gemeinsam mit seinem Bruder August war 
ihm die tief religiöse Grundrichtung, der un- 
erschütterliche Sinn für Recht und Gerechtigkeit, 
den sie jederzeit gegen alle und für alle betätigten. 
Insbesondere für die Gleichberechtigung der Is- 
raeliten traten sie (wie O'Connell und Herzog von 
Norfolk in England, Montalembert in Frankreich) 
unentwegt ein. Gemeinsam war ihnen auch eine 
glühende Begeisterung für die Freiheit, aber für 
die „echte, männliche Freiheit, die keinen gefähr- 
licheren Feind hat als die ihren Namen usur- 
pierende Buhldirne der Zügellosigkeit“. Daher 
auch ihre unerschrockenen jahrzehntelangen Kämpfe 
für die Verfassung, das „Palladium der Freiheit“. 
Ganz verschiedenartig aber ist die geistige Be- 
gabung der beiden Brüder. Überrascht August durch 
die Leichtigkeit des Entwurfs, die Beweglichkeit 
des Geistes und die Vielseitigkeit seiner Interessen, 
so tritt bei Peter die ins Tiefe gehende Konzen- 
tration der Geisteskraft hervor. Er war ein scharfer 
Jurist. Seine Reden, wohl vorbereitet, in der 
Sache ernst und gründlich, glänzend und geistreich 
in der Form, wandten sich mehr an den Verstand 
der Hörer als an ihre Leidenschaft. Oft waren es 
Meisterwerke der Rednerkunst im hohen akademi- 
schen Stil. Ein hinreißend wirkender Agitator ist 
er nie gewesen. Vermöge seines umfassenden 
Wissens und seiner hervorragenden Begabung 
wäre Peter Reichensperger auch die Zierde eines 
Lehrstuhls für Staatsrecht, ebenso wie für Finanz- 
wissenschaft oder Agrarpolitik geworden. Ein 
durchaus selbständiger Charakter, liebte er es mit- 
unter, seine eignen Wege zu wandeln, getrennt 
von der Fraktion. Seitdem Windthorst die
	        
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