Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Annex zur Gerechtigkeit auf den Gott schuldigen 
Kult bezog und als besondere Tugendalte der Re- 
ligion das Gebet, die Opfer, das Gelübde und 
den Eid betrachtete (vgl. Pesch, Prael. dogm. IX 
[ 1902] 139 s), aber sie hat dabei die Erkennt- 
nis Gottes als selbstverständlich vorausgesetzt. In 
der neueren Zeit wurde es üblich, die Religion 
mehr als ein Gut des innern Menschen nach Ver- 
stand, Willen und Gefühl aufzufassen und damit 
zugleich die wirksame Betätigung aller dieser Ver- 
mögen zu verbinden. Deshalb definiert man die 
Religion als das persönliche Verhältnis des 
Gesamtmenschen zu Gott, durch wel- 
ches der Mensch nach Erkenntnis, Willen 
und Gefühl in seinem ganzen Leben be- 
stimmt wird. 
2. Wesen der Neligion. Zum Wesen 
der subjektiven Religion ist also ein Dreifaches 
notwendig: die Tätigkeit des Verstands, des 
Willens und des Gefühls. Nur wo alle drei 
Tätigkeiten zur Einheit verbunden sind, kann von 
echter Religion die Rede sein. Sobald eines der 
drei Momente unter Hintansetzung der übrigen 
für sich allein zum Wesen der Religion gestempelt 
wird, fälscht man ihren Begriff, wie denn die 
Ausschaltung der religiösen Erkenntnis zum ein- 
seitigen Moralismus Kants oder zur verschwom- 
menen Gefühlsreligion Schleiermachers führen 
muß, während durch die ausschließliche Betonung 
des Verstands, wie im altindischen Vedantasystem, 
im häretischen Gnostizismus und in der Solafides- 
lehre Luthers, dem Willen jede Schwung= und 
Triebkraft zum sittlich-religiösen Handeln genom- 
men wird. Das Gefühl allein ohne Erkennen und 
Wollen endlich ist blind und läßt es weder zur 
klaren Einsicht in das Woher und Wohin des 
Menschen, dieser Grundlage aller und jeder Re- 
ligion, noch zu einer entscheidenden Willensrich- 
tung in unserem religiösen Verhalten kommen. 
Ruht zwar das eigentliche Wesen der (subjektiven) 
Religion primär im Willen, der sich und den 
ganzen Menschen zu Gott als seinem Urquell und 
Endziel bekennt, so bildet doch die wesentlichste 
Voraussetzung derselben unser Verstand, welcher 
vor allem unsere absolute Abhängigkeit von Gott 
und Hinordnung zu Gott erkennen und in de- 
mütigem Glauben sich der höchsten Wahrheit 
unterwerfen muß, falls diese auf übernatürliche 
Weise sich der Menschheit zu offenbaren geruht 
hat. Weil das Gefühl oder Gemüt wohl schwer- 
lich als selbständiges drittes Grundvermögen der 
Seele gelten kann, so wird dasselbe nicht so sehr 
zum Wesen als zur Integrität der religiösen Be- 
tätigung gefordert, insofern dasselbe den religiösen 
Ausschwung anregt, erleichtert und steigert, im 
Interesse der Religion zu den größten Kraftan- 
strengungen und Opfern begeistert und so als ver- 
stärkende Macht von unberechenbarer Wirkung 
ganz in den Dienst der Religion tritt (vgl. Jos. 
Jungmann 8. J., Das Gemüt und das Gefühls- 
vermögen der neueren Psychologie (2 1885.). 
Religion. 
  
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Tatsächlich beginnt die Religion im praktischen 
Leben mit der äußern Übung, da jedes Kind in 
einer religiösen Umgebung aufwächst und erzogen 
wird oder doch erzogen werden sollte. Da die alten 
Völker keine Dogmatik, keine Predigt, keine Kate- 
chese und keinen Religionsunterricht kannten, so 
war die bloß praktische Einführung in die Religion 
selbstverständlich. Der Glaube ist hier wie dort 
naturgemäße Voraussetzung, weil das ganze an- 
tike Religionswesen auf die Götter oder auf Gott 
zurückgeführt wird und das hohe Alter der Re- 
ligion eine unaussprechliche Weihe verleiht. Auch 
die Offenbarungsreligion, mit welcher die Heilige 
Schrift beginnt, fordert den Glauben als absolute 
Unterwerfung des Verstands unter die unfehlbare 
Autorität Gottes. Da aber der Glaube, weil er 
vernünftig sein muß, auf gewissen Vernunftwahr- 
heiten (praeambula idel) als seiner Grundlage 
sich aufbaut und so die Vernunft wieder voraus- 
setzt, so ist damit von selbst die Möglichkeit und 
Notwendigkeit gegeben, über die Voraussetzungen 
und den Inhalt des Glaubens zu reflektieren. Dies 
ist Aufgabe der Philosophie, und ihr unrechter 
Gebrauch hat nicht nur bei Griechen und Römern 
zum religiösen Skeptizismus geführt, sondern auch 
in der jüdischen und christlichen Religion den über- 
natürlichen Charakter geschwächt. Seit der Zeit 
des Deismus im 17. und 18. Jahrh. wurde die 
Vernunft zum einzigen Maßstab der Religion ge- 
macht und eine „natürliche Religion“ oder 
Vernunftreligion konstruiert, welche nur die Trias: 
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, umfaßt und so 
alt sein soll als das Menschengeschlecht, weil sie 
mit der menschlichen Vernunft selbst gegeben sei. 
Der Rationalismus der deutschen Aufklärung unter 
Lessing und Kant hat diese Religion willig über- 
nommen, aber auch in starken Mißkredit gebracht. 
Katholischerseits wird bis heute die natürliche Re- 
ligion mit Recht verteidigt, weil sie der stets fest- 
gehaltenen und von der Kirche bestätigten An- 
schauung entspricht, daß die Vernunft imstande ist, 
das Dasein Gottes, die Geistigkeit der Seele und 
die sittliche Freiheit des Menschen zu beweisen. 
Doch ist zu beachten, daß die alten Theologen für 
diese Vernunfterkenntnis nicht den Namen Reli- 
gion, sondern seit Hugo von St-Victor (gest. um 
1141) die Bezeichnung „natürliches Gesetz“, seit 
Raimund von Sabunde (gest. 1437) die Bezeich- 
nung „natürliche Theologie“ gebrauchten, wofür 
die neuere Apologetik den von Leibniz eingeführten 
Namen „Theodicee“ einsetzt. Aber es leuchtet un- 
chwer ein, daß auch die natürliche Religion sich 
nicht in bloße Naturtheologie oder Theodicee auf- 
lösen läßt, da jede Theologie notwendig die Re- 
ligion als ihr Prius voraussetzt und unmittelbar 
aus ihr geboren wird, nicht aber umgekehrt. In 
der Geschichte der Menschheit hat es überhaupt 
niemals eine reine Naturreligion, mit welcher der 
Deismus sich begnügen möchte, gegeben; denn 
schon die älteste Religion der ersten Menschen be- 
ruhte nicht auf dem religiösen Wissen, sondern auf 
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