Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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wesen eben aus der Erweiterung einer Familie 
und ihrer Verzweigung bilde. Und in gleicher 
Weise schreibt Stöckl: „In der Tat lehrt uns die 
Urgeschichte der Menschheit, daß der Staat ur- 
sprünglich ganz in dieser Weise entstanden ist. 
Indem von der Stammfamilie aus die weiteren 
Familien sich immer mehr verzweigten und mit- 
einander in Verbindung bleibend allmählich zu 
einer größeren Gesellschaft sich erweiterten, trat die 
Stammfamilie resp. das Oberhaupt derselben 
immer mehr hervor als das Haupt der ganzen 
Gemeinschaft, indem die übrigen Familien seiner 
Leitung und seinen Befehlen sich unterwarfen, ihn 
als den natürlichen Rächer verletzter Rechte an- 
erkannten usw. Das war der ursprüngliche Patri- 
archalstaat, allerdings erst der Anfang eines ge- 
ordneten Staatswesens, aber doch ein solcher 
Anfang, der den Keim der ganzen späteren Ent- 
wicklung schon in sich trug“ (Lehrbuch der Philo- 
sophie II18767 617; vgl. Costa-Rossetti, Philo- 
sophia moralis (1886 505: societates patri- 
archales; Chr. Pesch, Die christliche Staatslehre 
[1887] 32, 35). [Knabenbauer 8. J.] 
Patrimonialstaat. Unter den verschie- 
denen Rechtstheorien über die Begründung des 
Staates und die Übertragung der Staatsgewalt 
auf den Herrscher — Patriarchaltheorie, Patrimo- 
nialtheorie, Vertragstheorie — betrachtet die zweite 
den Staat und die Staatsgewalt als Gegenstand, 
als Objekt des privatrechtlichen Eigentums des 
Herrschers. Die Patriarchaltheorie geht von dem 
Verhältnis des Herrschers zu der Bevölkerung 
aus; sie sieht die Bevölkerung als erweiterte Fami- 
lie und die dem Herrscher über diese Bevölkerung 
zukommende Staatsgewalt als erweiterte Gewalt 
des Familienhauptes an. Im Gegensatz hierzu 
liegt der Patrimonialtheorieder Gedankezu Grunde, 
daß das private Eigentum des Herrschers am 
Grund und Boden, daß das Landeseigentum des 
Herrschers die Quelle seiner Staatsgewalt sei; aus 
dem ursprünglichen privaten Eigentum am Terri- 
torium sei diese Gewalt erwachsen. „Die Herr- 
schaft über die Untertanen hat hier die Natur eines 
am Gebiet haftenden Realrechts, einer Pertinenz 
der Eigentumsbefugnis, wie auch die Staats- 
angehörigen als Zubehör von Grund und Boden 
aufgefaßt sind.“ Diese Theorie gründet sich auf 
die Anschauung, daß die Eigentumsordnung der 
Staatsordnung zeitlich und logisch vorausgehen 
müsse, und findet sich insoweit bereits in den staats- 
rechtlichen Erörterungen verschiedener Schriftsteller 
des Altertums. Mit Unrecht wird von manchen 
Schriftstellern behauptet, daß sie mit dem Ende 
des alten deutschen Reichs als erledigt gelten könne, 
da sie gerade um diese Zeit aus den damaligen 
politischen Verhältnissen des Reichs neue Anregung 
erhielt und noch bis in die neuesten Zeiten hinein 
ihre Vertreter gefunden hat, wenigstens insoweit, 
als die von ihr verfochtene Entstehungsart mit 
unter die möglichen Formen der Begründung des 
Staates und der Staatsgewalt gerechnet und der 
  
  
Patrimonialstaat. 
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Versuch gemacht wird, ihre Berechtigung an ein- 
zelnen Staaten zu erweisen. In dieser Beziehung 
wird insbesondere darauf hingewiesen — und die 
Begründetheit dessen ist nicht zu bestreiten —, daß 
die germanische Anschauung, der König sei Ober- 
eigentümer alles Grund und Bodens, sehr geeignet 
war, dieser Lehrmeinung zur Entstehung und Aus- 
bildung zu verhelfen, fand doch diese Anschauung 
in dem das ganze Mittelalter beherrschenden Lehns- 
system unmittelbar ihre vollkommene Bestätigung. 
Nicht minder erhielt sie eine Bekräftigung durch 
die Form der Besiedlung und Kolonisation der 
deutschen Ostmarken, die sich auf Grund der ab- 
soluten Verfügungsmacht der Markgrafen über 
allen Grund und Boden in der Hauptsache durch 
Vergebung von Lehen vollzog. Das System der 
Grundherrschaft durchdrang eben die ganze Landes- 
verfassung, wie sich insbesondere daraus ergibt, 
daß auch die landeshoheitlichen Rechte der Terri- 
torialherren und die Landstandschaft ihren Zu- 
sammenhang mit dem Landeigentum aufwiesen. 
Allerdings ist daran festzuhalten, daß dieses 
Landeseigentum und die aus ihm unmittelbar sich 
ergebenden Befugnisse nicht identifiziert werden 
dürfen mit der Landeshoheit und den landeshoheit- 
lichen Gewalten. Insoweit solches dennoch geschah, 
befand sich die Theorie auf einem Irrweg. Ge- 
wiß ist, was ein neuerer Rechtslehrer hervorhebt, 
daß der Gegensatz von öffentlichem und privatem 
Recht der alten Zeit so gut fremd war, wie er es 
dem Feudalstaat war; es gab nur „ein einziges 
einartiges“ Recht. Es deckte sich deshalb jener 
Begriff des Landeseigentums einerseits nicht voll- 
kommen mit dem des reinen Privateigentums und 
anderseits nicht mit dem der öffentlich-rechtlichen 
Landeshoheit. Er enthielt beide. Man konnte 
aber darauf hinweisen, daß es zu allen Zeiten 
innerhalb des Reichs und der fürstlichen Territorien 
Land gegeben habe, das freies Privateigentum 
von Untertanen geblieben war und daher nur den 
landeshoheitlichen Befugnissen im heutigen Sinn 
unterlegen hatte. Mit der wissenschaftlichen Heraus- 
arbeitung der Unterscheidung zwischen Landeseigen- 
tum und Landeshoheit mußte daher auch das 
Richtige und Fehlerhafte jener Theorie sich ergeben. 
Es führte dazu, das Landeseigentum, wie es ein- 
gangs geschehen ist, lediglich als Entstehungsgrund 
der landesherrlichen Gewalt, der Landeshoheit und 
die letztere als einen aus naheliegenden Gründen sich 
vollziehenden Zuwachs zu dem ersteren anzusehen. 
Die Erörterung jener Unterscheidung leitete 
aber gleichzeitig zur Aufstellung eines neueren 
patrimonialen Prinzips über, dessen hauptsäch- 
lichster Vertreter Maurenbrecher ist (der trotz seiner 
ausdrücklichen Verwahrung gegen die ältere Theorie 
noch von H. A. Zachariä als deren namhaftester 
Verfechter bezeichnet wird). Dieser neueren Theorie 
gilt als Inhalt des patrimonialen Prinzips nicht 
das Eigentum des Herrschers am Staat und 
Staatsgebiet, sondern das Eigentum an der Sou- 
veränität. Maurenbrecher speziell bemerkt, daß der
	        
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