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Religion.
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dem Glauben. Geschichtlich ist ja die über--erleuchtete Vernunft sagt, daß und wie er glauben
natürliche Offenbarung bereits am Anfang
des Menschengeschlechts erfolgt und bis zur An-
kunft Christi stetig fortgesetzt worden. Dadurch
erhielt die Religion von Anfang an einen über-
natürlichen Charakter und war auf den Glauben
angewiesen. Die paradiesische Uroffenbarung hat
wenigstens in einzelnen Spuren des Heidentums
augenscheinlich nachgewirkt (ogl. H. Lüken, Die
Traditionen des Menschengeschlechts (11869)).
Die Reformatoren, besonders Luther, haben bei
ihrer Abneigung gegen die natürliche Gotteser-
kenntnis und die Vernunft überhaupt das ganze
religiöse Wissen auf den Glauben gestellt und da-
mit die natürliche Neligion abgewiesen, ja die na-
türliche Voraussetzung der übernatürlichen Re-
ligion in der Vernunft verneint. Als sich trotz-
dem später eine protestantische Scholastik ausbil-
dete, reagierte der Pietismus, indem er auf
die religiöse Erkenntnis verzichtete und die Reli-
gion ausschließlich in das Gefühl und die Fröm-
migkeit verlegte. Diese Richtung erhielt in
Schleiermacher, der selbst aus der Schule der
Herrnhuter hervorgegangen war, einen mächtigen
Vertreter, so daß das „Gefühl der schlechthinigen
Abhängigkeit“ einen wesentlichen Faktor in der
neueren protestantischen Theologie bildet. Unter-
stützt wurde diese Auffassung durch die Kritik
Kants, der, angeregt durch Hume und Rousseau,
der Aufklärung und dem Wolffschen Rationalis-
mus zwar ein Ende bereitete, aber auch die Be-
weisbarkeit des Daseins Gottes bestritt, zwischen
Vernunfterkenntnis und Religion einen klaffenden
Gegensatz statuierte und letztere nur als Postulat
der praktischen Vernunft innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft gelten ließ. Beide Richtungen
wirken bis heute in der protestantischen Theologie
fort. Die Ritschliche Schule lehnt die Metaphysik
ab und Kant wird als der Philosoph des Prote-
stantismus gefeiert (Paulsen, Philosophia mili-
tans I[1901] 31 f). Doch regt sich neuestens
wieder das Bewußtsein, daß eine Religion ohne
Metaphysik nicht bestehen, ein Verzicht auf die
natürliche Gotteserkenntnis leicht zur Leugnung
der objektiven Religion führen kann und eine prin-
zipielle Trennung der Grundvermögen der Seele
undurchführbar ist. Weder der Moralismus
Kants noch die Gefühlsreligion Schleiermachers
können für sich allein dem Bedürfnis des mensch-
lichen Geistes und Herzens genügen; aber sie bil-
den neben dem Intellektualismus fraglos ein be-
rechtigtes Element der Religion.
Bei der Religion ist auch wesentlich der Wille
beteiligt; denn der Glaube, das Prinzip der Re-
ligion, ist ein Akt des Willens, wenn auch des von
der Vernunft geleiteten Willens. Dies gilt ganz
besonders für die übernatürliche Religion, welche
auf die Autorität des sich offenbarenden Gottes
begründet ist. Der Gläubige beugt seinen Willen
vor der Wahrheit und Autorität, auch wenn er
die Wahrheit nicht durchschaut, weil ihm die er-
und gehorchen müsse. Die Religion ist aber nicht
nur selbst eine Tugend, sondern auch die Grund-
lage und Wurzel aller Tugenden: es gibt keine
unabhängige Moral. Denn erst die Religion gibt
dem Menschen den unwandelbaren Maßstab für
gut und bös, Tugend und Laster an die Hand,
schafft im unbeugsamen heiligen Willen Gottes
den zureichenden Grund der sittlichen Verpflich-
tung, sorgt in dem Gedanken an eine ewige Ver-
geltung für eine genügende Sanktion des Sitten-
gesetzes und gebiert den heldenmütigen Starkmut
in der ergebenen Ertragung jeder Art von Schmerz,
für den die religionslose Ethik mit dem antiken
Stoizismus entweder nur den Selbstmord oder
leere Worte, aber keinen wirksamen Trost in Be-
reitschaft hat. Wer mit Agricola (1537) sagt:
„Das Gesetz gehört aufs Rathaus, nicht in die
Kirche“, der hat mit der Lockerung des Bandes
zwischen Moral und Religion die Sittlichkeit selbst
ihrer innern Kraft, Würde und Weihe beraubt,
das sittliche Denken, Empfinden und Tun höch-
stens mit einem äußern Anstandsfirnis überziehend,
der vor den Stürmen der Versuchung nicht stand-
zuhalten vermag. Nach der Bibel „ist es ohne
Glauben unmöglich, Gott zu gefallen“ (Hebr. 11,
6), und „ein rechter und unbefleckter Gottesdienst
(religio) vor Gott und dem Vater ist dieser,
Waisen und Witwen in ihrer Trübsal zu besuchen
und sich unbefleckt von dieser Welt zu bewahren“
(Jak. 1, 27). Die Religion muß die Mittel bieten,
um die Seele von der Last der Sünde zu befreien
und den ohnmächtigen Willen zu kräftigen. In
welchem Sinn endlich auch das Gefühl als Sitz
der Religion anzusehen ist, wurde schon oben aus-
einandergesetzt. Jedenfalls darf seine Bedeutung
nicht unterschätzt werden. Denn der Affekt spielt
in der Religion eine Hauptrolle, weil er den
Gläubigen zur höchsten Kraftentfaltung, zum He-
roismus und zum Martyrium befähigt.
3. Innere und äußere Religion.
Ihrem Wesen nach ist die soeben gekennzeichnete
Religion begrifflich schon vollzogen, auch wenn sie
lediglich als religiöse Gesinnung oder innere Her-
zensverfassung sich im Verstand, Willen und Ge-
fühl durchsetzt. Und diese innere Religion
ist das eigentlich Primäre und Wesentliche, die
Seele und Quelle aller äußern Gottesverehrung,
welche erst von ihr Geist und Leben empfängt und
ohne sie völlig wertlos bleibt.
Gleichwohl liegt es in der Natur dieser Reli-
gion, daß sie der Doppelnatur des Menschen ent-
sprechend auch einen Ausweg nach außen sucht
und in leiblich-geistigen Kulthandlungen oder in
deräußern Religion sich sozusagen verkörpert.
Eine rein geistige Gottesverehrung, welche die
zahlreichen „Anbeter Gottes im Geist und in der
Wahrheit“ aus Abneigung gegen den lästigen
Kirchenbesuch sich erträumen, mag vielleicht für
leiblose Engel passen, für den Menschen ist sie Un-
natur, ja eine psychologische Unmöglichkeit. Aber