Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

521 Religionsgesellschaften. 
Menschen zu dem höheren Wesen, nach den Kon- 
sequenzen für die Erkenntnis und das sittliche 
Leben des Menschen ungemein verschieden beant- 
wortet. Ein weiteres Begriffselement der Reli- 
gionsgesellschaft gewinnen wir durch die Er- 
wägung, daß die Religionsgesellschaft eine Ver- 
einigung von Menschen darstellt. Eine solche 
Vereinigung kann auf die Dauer ohne eine 
irgendwie gestaltete, äußere Ordnung nicht 
bestehen. Jede Organisation muß aber Recht bil- 
den. Dieses Moment teilen nach außen hin die 
Religionsgesellschaften mit allen andern mensch- 
lichen Vereinigungen. — Religionsgesellschaft im 
Rechts sinn ist aber die Religionsgesellschaft in- 
sofern, als sie von der Rechtsordnung des Staats, 
in dessen Territorium sie existiert, ergriffen und 
behandelt wird. — Religionsgesellschaft im Lehr- 
sinn ist sie, insoweit sie auf der Grundlage eines 
behrsistes, zu dem sie sich bekennt, verstanden 
wird. 
In dieser Darstellung scheiden aus die heidni- 
schen Religionsgesellschaften (vgl. darüber Abschn. 
C und D). Es bleiben systematisch unerörtert 
die Religionsgesellschaften im Lehrsinn. Zur Dar- 
stellung kommen die wichtigeren christlichen Re- 
ligionsgesellschaften des Abendlandes mit Aus- 
nahme der katholischen Kirche (vgl. den besondern 
Art.), und die jüdische Religionsgesellschaft, und 
zwar 1) wie sie sich in ihrer äußern Ordnung uns 
darbieten, also nach der verfassungsrechtlichen 
Seite hin, und 2) wie sie von dem Staat, in dem 
sie existieren, als rechtliche Organisationen aner- 
kannt werden, also als Religionsgesellschaften im 
Rechtssinn. 
II. Historisches. Die von Christus gestiftete 
Kirche bestand als eine bis zur Trennung der 
morgenländischen Kirche, welche um die Mitte des 
11. Jahrh. zum definitiven Abschluß gebracht war. 
Die faktische Einheit der Kirche war dahin. Auf 
das Abendland beschränkt wurde die Einheit fest- 
gehalten bis zur Kirchenspaltung im 16. Jahrh. 
Neben die katholische Kirche trat der Protestantis= 
mus als selbständige Erscheinungsform christlichen 
Glaubens und Lebens. Der Protest der evan- 
gelischen Stände und Städte auf dem Reichstag 
zu Speyer 1529 gegen die Aufhebung des der 
Sache Luthers günstigen Reichsabschieds von 1526 
ließ die Neuerer zum erstenmal als organisierte 
Religionsparteidem Kaiser und dem Reichgegenüber 
auftreten. Staatsrechtlich wurde diese Entwick- 
lung zum Abschluß gebracht im Augsburger Re- 
ligionsfrieden 1555, wonach die Protestanten, 
wenigstens in den Territorien der protestantischen 
Reichsstände, eine rechtlich gesicherte Existenz er- 
hielten, und die Jurisdiktion der katholischen Bi- 
schöfe über die Protestanten bis zur gütlichen Ver- 
gleichung der Religionshändel suspendiert wurde. 
Dieser Religionsfriede war also ein Provisorium, 
ein Anerkenntnis des Besitzstands; die Einheit der 
Kirche blieb als Prinzip des öffentlichen Rechts 
bestehen. 
(Die christlichen Religionsgesellschaften.) 
  
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Fast gleichzeitig mit Luther war Zwingli in 
Zürich als Neuerer aufgetreten (1519), und etwas 
später hatte Kalvin in Genf seine welsche Kirche 
gegründet (1536). Der Dreißigjährige Krieg 
entschied über die „Religionshändel“. Der West- 
fälische Friede nahm weder für die eine, noch für 
die andere Richtung Partei, sondern anerkannte 
die Katholiken, Lutheraner und Reformierte 
(Zwinglianer und Kalvinkaner) als gleich berech- 
tigte Religionsparteien. Erst damit war auch im 
Abendland die Einheit der Kirche im staatsrecht- 
lichen Sinn vernichtet. Alle andern Religions- 
gesellschaften schloß der Westfälische Friede aus: 
Praeter has supra nominatas nulla alia religio 
neque recipiatur neque toleretur (Instrumen- 
tum Pacis Osnabrugense Art. 7, § 2). Damit 
war auch der Begriff „Dissidenten“ geschaffen. 
Lutheraner und Reformierte hießen, wenn sie in 
der Negation gegen die Mutterkirche in Betracht 
kamen, mit einem gemeinschaftlichen Namen: 
„Augsburgische Konfessionsverwandte"“. 
Der Zersetzungsprozeß in der abendländischen 
Kirche war aber noch nicht beendet. Auf dem 
Boden der alten Kirche vollzog sich am Beginn 
des 18. Jahrh. in sachlichem Zusammenhang mit 
der jansenistischen Bewegung eine Absplitterung 
in den Niederlanden (Erzbistum Utrecht), und in 
unsern Tagen bildete die Opposition gegen das 
Vatikanum den sog. Altkatholizismus. Neuestens 
ist in Russisch-Polen die Sekte der Mariawiten. 
aufgetreten. — Weit größer war die Sektenbildung 
im Protestantismus. Zwar schlossen sich Luthera- 
ner und Reformierte in mehreren Landesteilen 
Deutschlands (aber nicht in Osterreich) zusammen 
zu „Unionen“ oder „Landeskirchen"“. So in 
Preußen, Baden, Nassau, Rheinbayern usw. Doch 
blieb eine Anzahl lutherischer und reformierter 
Kirchengemeinschaften außerhalb der „Unionen“ 
und bildete „Freikirchen". Außerdem begünstigte 
die individualisierende moderne Gesetzgebung das 
Entstehen von Sekten. Endlich drangen englisch- 
amerikanische Sekten in die Gebiete der Landes- 
kirchen ein. 
III. Dogmatisches. Die katholische Kirche hat 
zu allen Zeiten den Anspruch erhoben, die von 
Christus als dem Erlöser aller Menschen gestiftete 
Anstalt zu sein, in welcher und durch welche ord- 
nungsmäßig alle Menschen ihr ewiges Heil 
suchen und wirken sollen. Von diesem Standpunkt 
aus muß die Kirche jeden dogmatischen Indiffe- 
rentismus und jede dogmatische Toleranz ver- 
werfen, d. h. sie kann einer andern Religionsgesell- 
schaft auf dem Gebiet der Glaubens= und Heils- 
lehre Berechtigung und Selbständigkeit nicht zu- 
erkennen. Auch das von der Kirche geschaffene 
Recht,, das kanonische, anerkennt andere Religions- 
gesellschaften nicht. Dieser Satz war auch staats- 
rechtlich und bürgerlich ein Jahrtausend und länger 
verwirklicht. Daß die Glaubenseinheit eines Volks 
zugleich die zuverlässigste Grundlage in politischer 
und nationaler Beziehung sei, dieser Gedanke ist
	        
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