523 Religionsgesellschaften.
großen Staatsmännern ja nie fremd gewesen. Das
hierauf beruhende Einheitssystem, welches zuerst
in der Form des reinen Staatskirchentums (Zäsaro-
papismus) in Byzanz und in der fränkischen
Monarchie, alsdann in der umgekehrten Einheits-
verbindung des Kirchenstaatstums (Hierokratis-
mus) in der Reichsgesetzgebung des Mittelalters
das Verhältnis von Staat und Kirche bestimmte,
erklärt es, daß die staatliche Gesetzgebung mit dem
kanonischen Recht in Bezug auf die Nichtanerken-
nung anderer Religionsgesellschaften überein-
stimmte. Die vorsätzliche Abspaltung von der
Kirche war eine Sünde gegen den Glauben, ein
kanonisches Delikt gegen die äußere Ordnung der
Kirche, endlich ein staatsbürgerliches Verbrechen
gegen diereligionsgesellschaftlicheinheitliche Grund-
lage des Staats. Diese tatsächliche Alleinherrschaft
der Kirche in staatsrechtlicher Beziehung wurde im
Lauf der Geschichte, wie oben gesagt, vernichtet.
Weder konnte die Reichsacht gegen Luther (Reichs-
tag zu Worms 1521) exekutiert werden, welche
dem Kirchenbann entsprechend dem formell noch
bestehenden öffentlichen Recht folgte, noch konnte
Karl V. die Häresie als staatliches Verbrechen in
seine Karolina (1532) aufnehmen. Der West-
fälische Friede brachte diese staatsrechtliche Ent-
wicklung definitiv zum Abschluß durch Anerken-
nung der Gleichberechtigung von Katholiken, Lu-
theranern und Reformierten. Damit war die
christlich mittelalterliche Gesellschaftsordnung auf-
gelöst. Die Kirche hat aber ihre dogmatische
Alleinherrschaft stets behauptet. Diese ist ein un-
erschütterliches Prinzip der Kirche und fließt aus
ihrem Wesen. Mit ihrer Lehre, daß sie die von
Christus gestiftete Kirche sei, ist ihre dogmatische
Alleinherrschaft mit absolutem Ausschluß jeder
andern Religionsgesellschaft im Lehrsinn von
selbst gegeben. Die Kirche ist nicht bloß als eine
von Christus gegründet, hat dann geschichtlich
diese Einheit verloren und wird diese Einheit erst
in der Vollendung wiederfinden (vgl. Kahl, Sy-
stem des Kirchenrechts (18941 56), sondern sie ist
eine in ihrer Stiftung, eine in der Geschichte,
eine dereinst als ecclesia triumphans. Das
gilt aber selbstverständlich nur für die Kirche im
Lehrsinn. Die staatsrechtliche Alleinherr-
schaft der Kirche ist im Gegensatz hierzu etwas
Historisches, nichts Wesentliches, etwas Gewor-
denes, nichts Gegebenes, etwas Kontingentes,
nichts Notwendiges. Daher hat die Kirche durch-
aus nicht zu allen Zeiten und in allen Ländern
auf dem Standpunkt gestanden, daß nur sie
mit Ausschluß aller andern Religionsgesellschaften
im Staat anerkannt werde, d. h. daß nur sie
Religionsgesellschaft im Rechts sinn sei. Einst
hat die Kirche im heidnischen römischen Reich um
Glaubensfreiheit gekämpft, d. h. um Anerkennung
als Religionsgesellschaft auf bürgerlichem und
staatsbürgerlichem Gebiet. Der Ausgang des
Kampfs war das Toleranzedikt von Mailand
(313), durch welches Konstantin und Licinius
(Die christlichen Religionsgesellschaften.)
524
allen Kulten volle Freiheit gewährten. Nicht
die Kirche, sondern Theodosius machte 379 diesem
Zustand ein Ende, indem er die christliche Religion
zur „allein richtigen und ausschließlichen Staats-
kirche“ erhob. Und in unsern Tagen hat Leo XIII.
in seiner Enzyklika Immortale Dei vom 1. Nov.
1885 ausgeführt: Revera si divini cultus varia
genera eodem iure esse, duo veram religio-
nem, Ecclesia iudicat non licere, non ideo
tamen eos damnat rerum publicarum mode-
ratores, qui, magni alicuius adipiscendi boni
aut prohibendi causa mali, moribus atque usu
patienter ferunt, ut ea habeant singula in
civitate locum. Das ist auch der Sinn der
Thesen 77/79 des Syllabus, welche sich gegen
eine absolute und schrankenlose Kultusfreiheit wen-
den, und welche durch die Bestrebungen des mo-
dernen Liberalismus, welcher durchaus glau-
bens= und christusfeindlich ist, historisch provoziert
worden sind. Der Syllabus spricht vom libera-
lismushodiernus. Irn dieser Beziehung ur-
teilt die Kirche ganz im Einklang mit den moder-
nen Staaten, welche den einzelnen Religionsgesell-
schaften gegenüber sich bald zu einem strafferen,
bald zu einem loseren Konzessionierungssystem in
ihren Verfassungen kraft der von ihnen in Anspruch
genommenen Kirchenhoheit bekennen. Kein Staat
wird eine Religionsgesellschaft zulassen, deren
Lehren sich gegen die Grundlagen des Staats
richten.
IV. Der Protestantismus. Was zunächst die
Quellen des Verfassungsrechts betrifft, so ist
negativ zu sagen, daß der Protestantismus im
Gegensatz zur katholischen Kirche die göttliche
Offenbarung als Rechtsquelle verwirft. Es besteht
kein stiftungsgemäß gegebenes Verhältnis zwischen
Offenbarung und Rechtsbildung. Diese Negation
fließt aus dem Wesen des Protestantismus. Der-
selbe ist eine congregatio Sanctorum (Confessio
Augustana 7), eine societas fidei et Spiritus
Sancti in cordibus (Apologia Confessionis 4,
5); eine unsichtbare Gemeinschaft ist aber unfähig,
Träger einer Rechtsordnung zu sein. Anderseits
kann die Betätigung dieser unsichtbaren Gemein-
chaft doch nur eine sichtbare sein. Die evan-
gelische Kirche ist daher unsichtbar und sichtbar
zugleich. Sie trägt die Rechtsordnung daher nicht
etwa als göttliche Einrichtung, sondern unter dem
Druck der eisernen Notwendigkeit des realen
Lebens. Von diesem Standpunkt aus verwirft der
Protestantismus die verfassungsrechtliche Lehre
der katholischen Kirche, daß Christus die Grund-
linien der Verfassung seiner Kirche selbst gezogen
habe. Die Art der Organe der evangelischen
Kirche, ihre rechtliche Stellung, überhaupt alles,
was Bestandteil der Verfassung einer Religions-
gesellschaft sein kann, ist nur iuris humani und
je nach den Zeiten veränderungsfähig. Der Pro-
testantismus ist nur als Heilsgemeinschaft von
Christus gewollt, als solche nur gebunden an die
Pura Evangelül doctrina et administratio
—