529 Religionsgesellschaften.
speziell die philosophische Schule oder politische
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„Erwählung“. Erst im theologischen Sprach-
gebrauch hat das Wort im Anschluß besonders
an Gal. 5, 20 eine tadelnde Nebenbedeutung an-
genommen: secta ist die beklagenswerte Abson-
derung von der Gesamtheit. — Nicht kongruent
damit ist „Sekte“ im staatsrechtlichen Sinn. Hier
bedeutet es eine Religionsgesellschaft im Gegensatz
zurstaatlich anerkannten und privilegierten „Kirche“.
Ein Werturteil ist damit nicht verbunden, wenig-
stens heute nicht mehr. Ebendieselbe Religions-
gesellschaft kann in einem Staat „Kirche“, in dem
andern „Sekte“ sein. So ist die anglikanische
Kirche in England Staatskirche, in Schottland
Sekte, umgekehrt die presbyterianische Kirche in
Schottland Landeskirche, in England Sekte. Der
Erzbischof von Canterbury gilt jenseits des Tweed
als Dissenter. — Ebenso kann sich in einem Staat
eine Sekte zur „Kirche“ auswachsen, wenn sie so
viele Anhänger gewinnt, daß sie das Leben des
Volkes als religiöse Potenz bestimmt oder wenig-
stens mit bestimmt. — Der Begriff „Sekten des
Protestantismus“ ist nicht leicht zu definieren.
Denn wo ist im Protestantismus die Gesamtheit,
von der die Sekten sich abgesondert haben? Die
Gesamtheit des Protestantismus ist etwas rein
Negatives: die Ablehnung und Negation der
katholischen Mutterkirche. Der Begriff „Sekte“
kann aber nur abgestellt werden auf etwas Positives.
Als solcher wird in unserem Fall gefaßt die „or-
ganisierte Landeskirche“. Sekten im Protestan-
tismus sind daher jene christlichen Religions=
gesellschaften, welche auf dem Grund einer prote-
stantischen, d. h. gegen die katholische Kirche
gerichteten Bekenntnisschrift stehen, sich aber von
der Landeskirche, in deren Territorium sie exi-
stieren, in der Lehre oder in der Verfassung oder
in beiden unterscheiden und getrennt halten.
b) Arten der Sekten. Beschränken wir uns auf
Deutschland, so unterscheidet man einheimische
und von auswärts gekommene Sekten. Zu den
ersteren gehören besonders die Separationen
oder lutherischen Freikirchen. Sie sind
entstanden aus der Opposition gegen die Union der
Lutheraner und Reformierten zu evangelischen
Landeskirchen. Die älteste und zahlreichste Frei-
kirche ist die „evangelisch-lutherische Kirche in
Preußen" sog. Altlutheraner). Als Friedrich
Wilhelm III. 1817 durch die Einführung seiner
„Hof= und Domagende“ eine Kultusunion der
Lutheraner und Reformierten bezweckte, erhob sich
in Breslau heftiger Widerstand. Die Altluthe-
raner hatten schwere Kämpfe mit dem Kirchen-
regiment zu bestehen, welches sogar das Militär
in Anspruch nahm (24. Dez. 1834 zu Hönigern,
Kreis Namslau, Schlesien). Mit dem Regie-
rungsantritt Friedrich Wilhelms IV. endete dieser
Kampf. Die „evangelisch-lutherische Kirche“ er-
hielt am 23. Juli 1845 die sog. Generalkonzes-
sion. An der Spitze steht ein Direktor mit einem
(Die christlichen Religionsgesellschaften.)
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aus Geistlichen und Laien zusammengesetzten Ober-
kirchenkollegium in Breslau. — Gegen die Union
im Kirchenregiment, welche 1874 im Großherzog=
tum Hessen-Darmstadt eingeführt wurde, bildete
sich die „selbständige evangelisch-lutherische Kirche
in den hessischen Landen“. — In gleicher Weise
veranlaßte die Errichtung eines Gesamtkonsisto-
riums im Regierungsbezirk Kassel 1868 eine Frei-
kirche, die sog. „renitente Kirche Niederhessens“. —
Als 1876 anläßlich der Einführung des Personen-
standsgesetzes die Trauformel in der preußischen
Landeskirche abgeändert wurde, versagten einzelne
storen im ehemaligen Königreich Hannover den
Gehorsam. So entstand die „evangelisch-luthe-
rische Freikirche in Hannover“. — Die im Groß-
herzogtum Baden bereits 1821 durchgeführte Union
erregte erst 1850 Opposition. — Mit der von prä-
destinatianischen Ideen getragenen sog. „Missouri-
Synode“ (seit 1864) steht im Zusammenhang die
„evangelisch = lutherische Freikirche in Sachsen“.
Alle diese Freikirchen lehnen den Summepiskopat
ab, das Kirchenregiment ruht bei der Gemeinde.
Ihre Verfassung ist daher presbyterial und synodal.
Unter den von auswärts gekommenen Sekten
sind zunächst zu nennen die Mennoniten. In
dieser Sekte lebt der Anabaptismus wohlorgani-
siert fort. Schon früh zeigten sich wiedertäuferische
Bestrebungen (ogl. Codex Theod. XVI, tit. 6).
Auch die Kirche machte den Anabaptismus zu einem
Delikt (abusus baptismi). Gewaltig setzten diese
Ideen im 16. Jahrh. wieder ein mit Schwärmerei
und sozialem Umsturz. Die Katastrophe in Münster
am 25. Juni 1535 wirkte aber ernüchternd. Ein
Jahr später trat der katholische Pfarrer Menno
Simonis zu dieser Sekte über und wirkte für sie
mit solchem Erfolg, daß sie noch heute nach ihm
benannt wird. Da der Anabaptismus im Reich
des Mittelalters staatliches Delikt war, hatten die
Mennoniten in den Niederlanden, solange diese
kaiserliche Erblande waren, viel zu leiden. Daher
wanderten sie vielfach aus, auch nach Deutschland.
Hier sind sie besonders in Westpreußen verbreitet
(ca 10 000). Seit 1886 sind die Mennoniten in
Deutschland zusammengeschlossen zu einer Ver-
einigung mit dem Sitz in Hamburg. Die Be-
zeichnung „Wiedertäufer“ stammt von der
Gegenseite: sie selbst nennen sich „Täufer“, „Tauf-
gesinnte“, da sie nur ihre Taufe für gültig halten.
Lehrbegriff und Verfassung ist niedergelegt im
„Fundamentalbuch“ des Menno Simonis (1539).
Sie verwerfen jede Art von Kirche sowohl bezüg-
lich der Organisation als der Lehre. Die Taufe
bei der Geburt vermittelt, da der einzelne für
sein Christentum verantwortlich ist, kein Christen-
tum. Die Obrigkeit ist eine dem Reich Christi
fremde Einrichtung. Daher das Verbot obrig-
keitliche Amter anzunehmen, der Obrigkeit den
Eid zu schwören oder Waffen zu tragen. Jede ein-
zelne Gemeinde ist autonom. — Die Baptisten
sind im 17. Jahrh. in England entstanden. Ihr
Wahrzeichen ist das Untertauchen (dipping), worin
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