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Uberlieferung sich klammernder Systeme, zwischen
deren Gegensätzen in der Folgezeit die Scholastik
eines el-Aschari und vor allem die mit der Unter-
scheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen
Dogmen operierende Theologie des Ghasäli ge-
schickt zu vermitteln verstand.
Wurden so in der Abbassidenzeit auf dem Ge-
biet der reinreligiösen Fragen Häresien glücklich
vermieden, so konnte die Wissenschaft doch nicht
alle Differenzen in der Auffassung des Imamats,
d. h. der Oberleitung des Islams beseitigen. Der
Kampf zwischen Ali und Moawija und der Über-
gang des Imamats auf die Omaijaden hatten den
Grund zu zwei Protestparteien gelegt: zur Rich-
tung der Chäridschiten, d. i. Dissidenten, die von
jedem rechtmäßigen Kalisen Unterwerfung unter
den Willen der Gemeinde und persönliche Fröm-
migkeit verlangten, und der der Schiiten, der
Parteigänger Alis und seiner Familie im Kampf
gegen die Omaijaden, deren Sache sich in der
Folgezeit eine große Zahl iranischer Neugläubigen
zu eigen machte, so daß der Parteischwerpunkt
bald in den äußersten Osten des Reichs verlegt
wurde. Obwohl von der orthodoxen Theologie
als Ketzer gebrandmarkt, bewiesen beide politisch-
religiösen Parteien eine große Lebenskraft. Wäh-
rend die Chäridschiten in gemäßigter Form als
Ibäditen (d. h. Anhänger des Abdallah, Sohn
des Ibäd) sich dauernd in Südostarabien, San-
sibar und Algier hielten, wucherte die Schia mit
mystischen Elementen stark durchsetzt in den beiden
Grenzmarken des Islams, Marokko und Persien,
fort, und wurde nach der Errichtung eines national-
persischen Reichs für dieses seit den Tagen der
Sefewidendynastie (gegründet 1501) sogar als
Staatsreligion proklamiert.
Stärker noch als im Kalifat ward die Idee
der Theokratie im Mahdismus betont, dessen durch-
aus unkoranischer Begriff seit dem 9. Jahrh. für
weite Kreise Dogma wurde. Der Mahdismus
rechnet mit der Regeneration des Islams durch
einen unmittelbar vor dem Weltgericht erscheinen-
den Messias oder Gottmenschen. Trotzdem hier-
nach sein Auftreten nur der Übergang vom zeit-
lichen zum ewigen Gottesreich wäre, haben sich
doch an das Auftreten verschiedener Mahdis
größere politische Verschiebungen mit der Tendenz
der Gründung neuer Kalifate geknüpft. In der
Schia erzeugte der Mahdismus den Ismailismus,
der eine größere Reihe von Inkarnationen des
Weltgeistes lehrte und seine Anhänger stufenweise
von der allegorischen Erklärung der islamischen
Dogmen und Riten zu deren völligen Leugnung
führte. Mit dem Versuch, 1017 den Fatimiden-
kalifen Häkim der Welt als Schlußstein der In-
karnationsreihe und damit als Mahdi vorzustellen,
spielte der Ismailismus seine letzte Karte aus;
ob dieser Gott auch bald aus der Welt ver-
schwand, so hat sich der Glaube an ihn doch
bis heute bei den Drusen des Libanons lebendig
erhalten.
Religionsgesellschaften.
(Der Jslam.) 540
Das Kalifat der Abbassiden bildete zwar die
am meisten typische, keineswegs aber einzige Ver-
körperung der Kalifatsidel. Das aus der Schia
erwachsene Kalifat der Fatimiden, angeblichen
Nachkommen des Ali (972/1171), und das der
Almohaden, eine Schöpfung des Mahdi Moham-
med ben Tumart (1121/1269), erhoben ähnliche
Ansprüche auf die Führung der islamischen Welt.
Bald nach der Eroberung Agyptens (1517) durch
die Osmanen legte sich auch deren Sultan, Se-
lim I., den Kalifentitel bei; besonders der Besitz der
heiligen Stätten Mekka und Medina mußte bei ihm
und seinen Nachfolgern das Fehlen kanonischer
Rechtstitel decken. Mit dem osmanischen Kalifat
rivalisierte sodann in der Folgezeit (seit 1544)
das scherifische von Marokko, das seine Ansprüche
von Verwandtschaftsbeziehungen mit dem Pro-
pheten herleitete. Unberührt vom Hin= und Her-
wogen der Ansprüche auf den Prinzipat, vom
Wechsel der herrschenden Dynastien, ja sogar von
der Durchsetzung der arabisch-persischen Kultur-
welt mit mongolisch-türkischen Barbaren blieb be-
stehen, was das Abbassidenzeitalter begründet
hatte: die im Volksgefühl als Ideal ruhende
Synthese von Staat, Religion und Zidilisation.
II. Der Islam von heute. 1) Verbrei-
tung. Die Zahl der Anhänger läßt sich zurzeit
nur annähernd genau bestimmen: die Schwierig-
keit, besonders für Mittelafrika und China richtige
statistische Angaben zu machen, erklärt, daß der
Gesamtansatz zwischen 224 000 000 (nach M.
Hartmann) und 260 000 000 (nach H. Jansen)
schwankt. Von ersteren entfallen auf Asien
158000 000, und zwar auf Türkisch-Asien
11 190 000, Arabien (soweit es unabhängig)
3500 000, Persien 8 900 000, Afghanistan
4375000, Britisch-Indien 61 220 000, Nieder-
ländisch-Indien 33061.000, Französisch-Hinter-
indien 1169000, Siam 1000000, China
23332000 (bei Jansen: 33.000.000), Russisch-
Asien 9 644 000; auf Afrika 520000000, und
zwar auf Agypten-Sudan 8544.000, Türkisch-
Nordafrika 996 000, Marokko 7 840 000, Fran-
zösische Kolonien 16 676 000, Deutsche Kolonien
8500000 (in Ostafrika 6700.000), Englische Ko-
lonien 7771.0000, Belgische Kolonien 1 0070000,
Abessinien 800 000; auf Europa 12991,000,
und zwar auf Rußland (mit Kaukasus) 81410.000,
Türkei 3 295.000, Bulgarien 603.000, Osterreich
549000. Von der Gesamtzahl sind Sunniten:
213.000 000, Schiiten (in Persien, Indien, Je-
men) 10 000000. Dem Rechtsritus nach sind
die Moslems von Tripolis, Tunis, Algier und
Marokko Malikiten, die von der Türkei, Britisch--
Indien und China Hanafiten, die von Agypten,
Jemen, Sansibar und Niederländisch-Indien
Schafüitten, die von Mittelarabien (Wahhabiten)
Hanbaliten. Rückschritte macht der Islam in Süd-
osteuropa gegenüber dem Christentum; Fortschritte
gegenüber Hinduismus in Vorderindien, gegen-
über Fetischismus in Niederländisch-Indien und