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Moslems aus. Der Babismus, gegründet von
Mirsa Ali Mohammed (1820/50), begann als
eine Mahdibewegung, die, gegen die Werkheilig-
keit der persischen Geistlichkeit gerichtet, die Glau-
benssätze allegorisch deutete und die Ethik des
Korans besonders hinsichtlich der Stellung des
Weibes veredeln wollte; in seiner Weiterbildung
durch Bahä-Allah ließ sie allen Mystizismus wie
auch den Zusammenhang mit dem schütischen Islam
fahren und predigte einzig Brüderlichkeit und Welt-
bürgertum, doch ohne nennenswerten praktischen
Erfolg. Der Neuislam der Richtung des Sajjed
Achmed Chan aus Aligarh (1817/98) ist islami-
scher Modernismus, der Fatalismus und religiösen
Formalismus, Absperrung der Frau und Poly-
gamie mit Vernunftsgründen bekämpft; auf grö-
ßere Massen hat auch diese Richtung keinen Ein-
fluß erzielt. Zwischen modernen Forderungen und
dem alten Standpunkt möchte der Mahdismus des
Mirsa Ghula Achmed im Pendschab vermitteln,
der dabei trotz seiner Ablehnung des Dschihäds
dem Christentum äußerst feindselig gegenübertritt.
Religiöse Gleichgültigkeit ist in der moslemischen
Welt selten; sie findet sich nur in gewissen jung-
türkischen und persischen Kreisen. Mehr in der
Politik als in der Religion sind die Wurzeln des
im 19. Jahrh. außerordentlich gesteigerten Mis-
sionstriebs des Islams zu suchen. So sind auch
die an der Missionierung besonders beteiligten
nordafrikanischen Orden Genossenschaften mit vor-
wiegend politischen Zielen. Das bisher Erreichte
gipfelt in der fast völlig erreichten Islamisierung
des afrikanischen Kontinents vom Mittelmeer bis
zum französischen Kongo, der nördlichen Mozam-
biqueküste und allem dazwischen liegenden Land.
Von fünf Punkten zog und zieht noch der Strom
der islamischen Mission durch Afrika: von Ma-
rokko die Westküste entlang in den französischen
Sudan, von Timbuktu zum Niger und Binue,
von Tripolis zum Tschadsee und nach Wadai und
Bornu, von Agypten nach Kordofan und Uganda,
endlich von Sansibar zu den großen Seen. Nächst
Afrika ist Niederländisch-Indien das Hauptziel der
islamischen Mission. In beiden Gebieten, wo der
Islam mit vollkommener Unkultur zusammenstößt,
wirkt er nach verschiedener Richtung zivilisatorisch:
er rottet Kannibalismus und Fetischismus aus,
hebt das Selbstgefühl der Leute, indem er sie an
die allgemeinen Interessen des Islams ankettet, und
vermittelt einen Begriff von Recht und Ordnung.
Daß er daneben laxe Moral, Fatalismus, Arbeits-
scheu und dünkelhafte Gesinnung unangetastet läßt,
ja fördert, drückt den Wert solcher Kulturarbeit
allerdings bedenklich herunter.
4. Gesellschaft und Kultur. Die Schich-
tung des Islams ist entsprechend der von der Re-
ligion gepredigten Brüderlichkeit ziemlichhomogen;
starke Klassenunterschiede treten nirgends hervor.
Eine Art Geburtsadel bilden die Nachkommen des
Propheten, die Saijids oder Scherife, eine geistige
Oberklasse die Studierten. Die Vorteile einersolchen
Religionsgesellschaften.
(Der Islam.) 544
Gleichheit genießen aber nur die Männer; denn
Frauen zählen nicht für das öffentliche Leben. Ist
schon der Geist des Korans ihnen nicht günstig, so
hat die durch lange Jahrhunderte streng durch-
geführte Sitte ihrer Verhüllung und häuslichen
Einschließung zu dem ziemlich allgemeinen Begriff
der Inferiorität des weiblichen Geschlechts geführt.
Eine soziale Stellung hat überhaupt nur das ver-
heiratete Weib, wenn es auch nur eine Unterstel-
lung unter einen Gatten ist, der ein weitgehendes
Strafrecht über dasselbe besitzt, sich mit Leichtig-
keit von ihm scheiden und der ersten Frau bis zu
drei weitere sowie beliebig viele Konkubinen hinzu-
sügen kann, während die Frau kaum eine gesetz-
liche Handhabe zum Austritt aus der Ehe hat.
Weil ohne Bewegungsfreiheit, entbehrt die mos-
lemische Frau auch der Erwerbsmöglichkeit und ist
von jeder Beteiligung an öffentlichen Angelegen-
heiten und Fragen ausgeschlossen. Verbesserung
der sozialen Lage der Frau steht zwar auf dem
Programm des indischen Neuislams, des Babis-
mus und des ägyptischen Reformers Qäsim Amin,
auch deutet die Errichtung von Normalschulen zur
Ausbildung von weiblichen Lehrkräften in Kon-
stantinopel und Bulak auf ein gewisses Interesse der
Regierungen an der Hebung der Frauen; doch wird
der Islam, so lange er eben noch Islam ist, eine
Lösung der Frauenfrage in christlich-europäischem
Sinn sicher nicht finden. Sklaverei hat der Islam
von jeher geduldet und kanonisch gerechtfertigt;
obwohl aber unter dem Druck der europäischen
Mächte (Berliner Kongreß 1885, Brüsseler Anti-
sklavereikongreß 1888) der Handel mit Sklaven
selbst von den moslemischen Regierungen offiziell
abgeschafft worden ist, zeigt der Umstand, daß ge-
rade die „heiligen“ Städte Mekka und Medina
noch ihre Sklavenmärkte haben, wie wenig ge-
nehm diese Maßregel den geistlichen Kreisen ist.
Die humanitären Bestrebungen des Islams be-
schränken sich auf Privatwohltätigkeit gegen Arme
und Kranke, vielfach in Form von Stiftungen
(Wukuf), deren Verwaltung bei den Gotteshäusern
liegt; öffentliche und allgemeinere Wohlfahrts-
pflege ist ein unbekannter Begriff.
Die literarische Kultur des heutigen Islams
zeigt ein durchaus mittelalterliches Gepräge. Wissen-
schaft ist Wissen von den Satzungen Gottes, um-
faßt daher nur Theologie und Rechtskunde samt
deren Hilfswissenschaften, besonders Grammatik
des Arabischen. Hierauf ist auch der ganze Schul-
unterricht zugeschnitten. Die Volksschule, die ganz
den Gemeinden und Privaten überlassen ist, ver-
mittelt Lesen und Schreiben des Arabischen zum
Zweck des Vertrautwerdens mit dem Koran, außer-
dem nur ein wenig Rechnen. Der höhere Unter-
richt, wie er in Moscheen, Medreßen (Kollegien)
und Universitäten, d. h. Vereinigung mehrerer
Medreßen (z. B. in Fes, Tunis, Kairo, Mekka)
erteilt wird, fängt mit dem Rezitieren des Korans
an und hat einen mehr oder weniger kompletten
Kursus der Theologie und Rechtswissenschaft zum