Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Gegenstand. Geschichte, Philosophie und Natur- 
wissenschaften fehlen ganz im moslemischen Lehr- 
plan. Daneben besitzt der Islam einige moderner 
eingerichtete Anstalten in den türkischen Militär- 
schulen (französischen Musters), den 1895 reor- 
ganisierten Medreßen von Algier, Tlemsen und 
Constantine (zur Vorbereitung für den niederen 
Verwaltungsdienst in Algerien), einer 1908 ein- 
gerichteten khedivialen Universität in Kairo euro- 
päischen Stils, endlich in der den Zwecken des 
Neuislams dienenden arabischen Hochschule in 
Aligarh (Indien), deren Lehrkörper neben Orien- 
talen auch einige Europäer aufweist. Das medi- 
zinische Studium hat keine Stätte im Islam, da 
er die Verunreinigung des Menschen durch Be- 
rührung mit Leichen lehrt; europäüsche Anstalten, 
wie die Université St. Joseph und das Ameri- 
Can Protestant College in Beirut, die Jesaiten- 
kollegien in Kalkutta, Bombay, Tritschinopoli be- 
ginnen indessen die Moslems hierfür wie für die 
exakten Naturwissenschaften zu interessieren. Die 
literarische Produktion hält sich fast ausschließlich 
in den Grenzen der Schulfächer, abgesehen von 
dem in den größeren Städten blühenden Zeitungs- 
wesen, das der Politik dient. Die Zahl der mos- 
lemischen Analphabeten beträgt in der Türkei 
90 % , Agypten 92 %, Vorderindien 96,5 %, 
Nordwestafrika 97 %. 
Die materielle Kultur des Islams ist so 
rückständig, daß sie einer Konkurrenz mit der euro- 
päischen in keiner Weise gewachsen ist; dazu be- 
einträchtigt die fatalistische Denkungsweise jede 
größere Initiative. Die Bodenkultur wird in so 
unzulänglicher Weise betrieben, daß im ganzen 
Dar-ul-Islam die Bevölkerungsziffer weit unter 
dem normalen Mittel steht. Die Gewerbtätigkeit 
hält sich in den Schranken zunftmäßig organi- 
sierter Kleinbetriebe, wobei der Erzeuger zugleich 
Verkäufer seiner Produkte ist. Im Handel fehlt 
meist der Begriff fixer Preise. Der Geldmarkt 
ist überall in fremden Händen, da das Zinsnehmen 
der Lehre des Korans zuwider ist. So steht auch 
binter allen größeren Geschäftsunternehmungen 
fremdes Kapital und Personal. Die Verkehrs- 
wege und #mittel der islamischen Länder sind, 
soweit nicht von europäüscher Seite erstellt, völlig 
unzulänglich; die einzige mit moslemischem Geld 
gebaute Bahnlinie Damaskus-Mekka, von Abdu 
"I-Hamid auspolitisch-religiösen Gründen angelegt, 
hat so gut wie keine kommerzielle Bedeutung. 
5. Islam und katholische Mission. 
Die katholische Mission steht dem Islam inner- 
halb des Dar-ul-Islam ganz gebunden gegen- 
über, da hier christliche Propaganda als Staats- 
verbrechen gilt. So beschränkt sich z. B. im 
Vorderorient ihre Wirksamkeit auf Hütung der 
heiligen Stätten, moralische und materielle Unter- 
stützung der einheimischen Christen und Schaffung 
von Wohlfahrtseinrichtungen. Außerhalb des Dar- 
ul-Islam setzt sie nachdrücklicher dort ein, wo der 
Islam selbst missionierend vorgeht, also besonders 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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in Afrika. Dabei verzichtet sie nach dem Vorgang 
Kardinal Lavigeries, in den Reihen der Moslems 
Proselyten zu gewinnen, da die Erfahrung die 
Erfolglosigkeit solcher Versuche gelehrt hat; ihre 
Arbeit besteht vielmehr darin, die vom Islam be- 
drohten heidnischen Gegenden zu christianisieren. 
Beteiligt an dieser also nur indirekt gegen den 
Islam gerichteten Missionierung sind vor allen die 
Bäter vom Heiligen Geist. (neuorganisiert 1848) 
in Senegambien, Sierra Leone, Franz.-Sudan, 
Franz.-Guinea, Franz.= und Portugiesisch-Kongo, 
Ubangi und Sansibar; die Afrikanische Mission 
von Lyon (gegr. 1856) an der Elfenbeinküste, am 
Unteren Niger, in Dahome und Benin; die Weißen 
Bäter (gegr. 1869) in Algier, der Sahara, Sudan, 
Aquatorialafrika und Njassa; die Scheutvelder 
Genossenschaft (gegr. 1862) in Belgisch-Kongo. 
Dank ihren Bemühungen beträgt die Zahl der 
katholischen Eingebornen Afrikas jetzt ungefähr eine 
Million (724.000 Neubekehrte). Dennoch dürfte 
es selbst dem angestrengtesten Wirken der katho- 
lischen wie auch der vielfach direkter dem Islam 
entgegentretenden protestantischen Mission nicht 
gelingen, mehr als einzelne christliche Inseln im 
Meer des afrikanischen Islams zu schaffen; denn 
einesteils sieht der Neger in dem Islam die seinem 
arbeitsscheuen und größeren Reformen abgeneigten 
Wesen zusagendere Religion, anderseits bringen 
die europäischen Kolonialregierungen, vor allen die 
französische und die portugiesische, den Missions- 
bestrebungen nicht das Maß von Interesse ent- 
gegen, welches sie schon in Hinsicht auf eine ge- 
sicherte Zukunft der Kolonien verdienen. 
D. Ostasiatische, BReligionsgesellschaften. 
I. Allgemeiner Uberblick. Bei einer Darstel- 
lung der Religionsgesellschaften vom staatsrecht- 
lichen Gesichtspunkt aus können die ostasiatischen 
Religionsgesellschaften nicht mehr unberücksichtigt 
bleiben. Der immer enger sich gestaltende Wechsel- 
verkehr zwischen Ost und West hat die, wesentlich 
auf christlicher Grundlage ruhende Staats= und 
Gesellschaftsordnung des Westens sowohl in poli- 
tischer als in geistiger Beziehung einer Zivilisation 
näher gebracht, die, so sehr sie sich auch allmählich 
den Institutionen der christlichen Völker zu nähern 
und anzupassen bestrebt, doch durch die in ihrer 
Mitte bestehenden und mit ihrem geistigen Leben 
eng verwachsenen Religionsgesellschaften nach wie 
vor einen grundverschiedenen Charakter als staat- 
licher und sozialer Körper bewahrt. In Betracht 
kommen vor allem die drei großen Kulturländer 
Indien, China, Japan. Sie stellen drei, durch 
die Eigenart des Religionslebens unterschiedene 
Sphären einer uralten Staats= und Gesellschafts- 
ordnung dar. Der indischen Sphäre entspricht 
der Hinduismus, der chinesischen der Konfuzianis- 
mus, der japanischen der Schintoismus. Diese 
drei Formen der religiösen Überlieferung bilden 
drei nationale Religionen, untereinander wesent- 
lich verschieden sowohl in den kanonischen Büchern 
wie in den liturgischen Bräuchen. Aber diese drei 
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