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nationalen Religionen begründen keineswegs drei
nationale Religions gesellschaften im stren-
gen Sinn. Der Begriff „Religionsgesellschaft"
kann auf keine derselben schlechthin übertragen
werden, insofern darunter eine Vereinigung von
Personen verstanden wird, die durch das Be-
kenntnis derselben Überlieferung und durch die
Pflege desselben Kultus zu einer geschlossenen,
von andern religiösen Vereinigungen getrennten
Gemeinschaft des religiösen Lebens zusammen-
gehalten werden. In diesem Sinn kann der Be-
griff „Religionsgesellschaft“" nur auf jenen Teil
der Bevölkerung Indiens, Chinas, Japans über-
tragen werden, der sich zum Christentum oder
Islam bekennt. Was wir unter dem Namen Hin-
duismus, Konfuzianismus, Schintoismus zusam-
menfassen, stellt keineswegs eine geschlossene, in
sich selbst bestehende, von andern getrennte Ge-
meinschaft dar, d. h. eine Gemeinde von Bekennern,
die durch das gemeinsame Band eines einzigen
Glaubens, eines einzigen Sittengesetzes, eines
einzigen Kultus in der Art zu einer religiösen
Körperschaft organisiert sind, daß dies das gleich-
zeitige Bekenntnis eines andern Glaubens vom
Kultus ausschließt. So etwas wie eine christliche
Gemeinde gibt es weder unter den Hindus noch
unter den Konfuzianern noch unter den Schin-
toisten. Der Hinduismus besteht als religiöse
Gemeinschaft in der Gestalt einer Unzahl von
Sekten, die zwar alle in denselben allgemeinen,
unter dem Namen Brahmanismus zusammen-
gefaßten altindischen überlieferungen wurzeln,
aber in ihren besondern Kultusüberlieferungen
als Sekte sich scharf unterscheiden. Daher stellt
der Hinduismus als solcher keine Gemeinschaft
von Bekennern eines Glaubens dar. Aber auch
auf die einzelnen Sekten trifft der Begriff Reli-
gionsgesellschaft im strengen Sinn nicht zu.
Denn obschon diese sich durch verschiedene Formen
des Wischnu= oder Schiwakultus unterscheiden,
so schließt das doch nicht aus, daß der Hindu, der
zu einer Schiwasekte gehört, auch den Wischnu-
kultus so praktiziert, als wäre er das Glied einer
Wischnusekte. Man darf seiner Andacht in den
Tempeln Wischnus nach Art der Wischnusekte
huldigen, ohne seine Zugehörigkeit zu einer schi-
waitischen Sekte aufgeben zu müssen. Innerhalb
des Hinduismus wird diese gegenseitige To-
leranz so weit getrieben, daß sie den Begriff
„Religionsgesellschaft“ im strengen Sinn auf die
dem einzelnen Kultus dienenden wischnuitischen
und schiwaitischen Priester und Aszeten einschränkt,
während sie denselben für die Masse in der Praxis
aufhebt. Dieser religiöse Amalgamismus hat im
Konfuzianismus und Schintoismus durch den
von Indien ausgehenden Einfluß des Bud-
dhismus eine noch viel größere Ausdehnung
angenommen. Durch den letzteren ist der Hin-
duismus die Quelle geworden, aus der seit mehr
als anderthalbtausend Jahren das konfuzianische
China und das schintoistische Japan ihrem reli-
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.)
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giösen Gepräge die hervorstechendsten Züge geben.
Der Buddhismus, obschon innerhalb des Hin-
duismus als eine seiner Sekten entstanden, ist das
Gemeingut aller drei Kultursphären, d. h. nicht
bloß des Hinduismus, sondern auch des Konfu-
zianismus und Schintoismus geworden. Aber er
bildet weder hier noch dort eine „Religionsgesell-
chaft“ in dem Sinn, daß sich neben einer kon-
fuzianischen oder schintoistischen Religionsgesell-
chaft seit der Einführung des Buddhismus eine
buddhistische Religionsgesellschaft gebildet hätte,
ähnlich wie sich durch Einführung des Christen-
tums christliche Religionsgesellschaften in China
und Japan gebildet haben. Zwar läßt sich sagen,
daß der Buddhismus die Religion Chinas und
Japans geworden ist. Wenn ein Chinese oder
Japaner religiös gesinnt ist, so ist er Buddhist.
Aber der chinesische Buddhist bleibt Konfuzianer
und der japanische Buddhist Schintoist. Einen
wirklichen Unterschied des Bekenntnisses gibt es
weder für den Chinesen noch Japaner. Wir
können daher wohl von buddhistischen oder kon-
fuzianischen oder schintoistischen Kultusstätten und
Kultusdienern (Bonzen) reden, aber nicht von
einer buddhistischen, konfuzianischen, schintoisti-
schen Bevölkerung. Darum läßt sich auch keine
chinesische oder japanische Religionsstatistik auf-
stellen, welche die Bevölkerung nach Religions-
gesellschaften scheidet als buddhistische, schinto-
istische, konfuzianische Kultusgemeinschaft. Alle
Religionsstatistiken, welche dem Buddhismus in
China oder Japan eine bestimmte Anzahl von
Bekennern zuweisen, müssen aus diesem Grund
als unzuverlässig zurückgewiesen werden, weil die
erste Voraussetzung für eine differenzierende Re-
ligionsstatistik, die Differenzierung des Volks
nach Bekenntnissen selbst fehlt. Kann nun zwar
von einer Religionsgesellschaft im strengen Sinn
bei den Bekennern des Hinduismus, Buddhis-
mus, Konfuzianismus, Schintoismus nicht die
Rede sein, so bilden sie doch im weiteren Sinn
eine Gemeinschaft, welche gerade durch die Re-
ligion in einem besondern Verhältnis zur staat-
lichen und gesellschaftlichen Ordnung steht, so-
wohl unter dem Gesichtspunkt der Abhängigkeit
vom Staat als unter dem Gesichtspunkt des Ein-
flusses auf das geistige, sittliche, kulturelle Leben
des Volks.
II. Der Hinduismus teilt mit dem Islam
die religiöse Vorherrschaft auf der Gangeshalb-
insel. Er faßt alle Bekenner der brahmanischen
Religion zu einer Gemeinschaft zusammen, die
nach dem letzten Zensus (1900) 207 Millionen
der Gesamtbevölkerung beträgt, während die dem
mesem ergebene Bevölkerung 62 ½ Millionen
zählt.
1. Kultus. Die brahmanische Religion be-
ruht auf den uralten Überlieferungen eines unter
dem Namen Brahma ursprünglich gepflegten
Opferkultus. Seine Hüter und Pfleger waren die
Brahmanen. Das Wort „Brahma“ ist zum