Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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nationalen Religionen begründen keineswegs drei 
nationale Religions gesellschaften im stren- 
gen Sinn. Der Begriff „Religionsgesellschaft" 
kann auf keine derselben schlechthin übertragen 
werden, insofern darunter eine Vereinigung von 
Personen verstanden wird, die durch das Be- 
kenntnis derselben Überlieferung und durch die 
Pflege desselben Kultus zu einer geschlossenen, 
von andern religiösen Vereinigungen getrennten 
Gemeinschaft des religiösen Lebens zusammen- 
gehalten werden. In diesem Sinn kann der Be- 
griff „Religionsgesellschaft“" nur auf jenen Teil 
der Bevölkerung Indiens, Chinas, Japans über- 
tragen werden, der sich zum Christentum oder 
Islam bekennt. Was wir unter dem Namen Hin- 
duismus, Konfuzianismus, Schintoismus zusam- 
menfassen, stellt keineswegs eine geschlossene, in 
sich selbst bestehende, von andern getrennte Ge- 
meinschaft dar, d. h. eine Gemeinde von Bekennern, 
die durch das gemeinsame Band eines einzigen 
Glaubens, eines einzigen Sittengesetzes, eines 
einzigen Kultus in der Art zu einer religiösen 
Körperschaft organisiert sind, daß dies das gleich- 
zeitige Bekenntnis eines andern Glaubens vom 
Kultus ausschließt. So etwas wie eine christliche 
Gemeinde gibt es weder unter den Hindus noch 
unter den Konfuzianern noch unter den Schin- 
toisten. Der Hinduismus besteht als religiöse 
Gemeinschaft in der Gestalt einer Unzahl von 
Sekten, die zwar alle in denselben allgemeinen, 
unter dem Namen Brahmanismus zusammen- 
gefaßten altindischen überlieferungen wurzeln, 
aber in ihren besondern Kultusüberlieferungen 
als Sekte sich scharf unterscheiden. Daher stellt 
der Hinduismus als solcher keine Gemeinschaft 
von Bekennern eines Glaubens dar. Aber auch 
auf die einzelnen Sekten trifft der Begriff Reli- 
gionsgesellschaft im strengen Sinn nicht zu. 
Denn obschon diese sich durch verschiedene Formen 
des Wischnu= oder Schiwakultus unterscheiden, 
so schließt das doch nicht aus, daß der Hindu, der 
zu einer Schiwasekte gehört, auch den Wischnu- 
kultus so praktiziert, als wäre er das Glied einer 
Wischnusekte. Man darf seiner Andacht in den 
Tempeln Wischnus nach Art der Wischnusekte 
huldigen, ohne seine Zugehörigkeit zu einer schi- 
waitischen Sekte aufgeben zu müssen. Innerhalb 
des Hinduismus wird diese gegenseitige To- 
leranz so weit getrieben, daß sie den Begriff 
„Religionsgesellschaft“ im strengen Sinn auf die 
dem einzelnen Kultus dienenden wischnuitischen 
und schiwaitischen Priester und Aszeten einschränkt, 
während sie denselben für die Masse in der Praxis 
aufhebt. Dieser religiöse Amalgamismus hat im 
Konfuzianismus und Schintoismus durch den 
von Indien ausgehenden Einfluß des Bud- 
dhismus eine noch viel größere Ausdehnung 
angenommen. Durch den letzteren ist der Hin- 
duismus die Quelle geworden, aus der seit mehr 
als anderthalbtausend Jahren das konfuzianische 
China und das schintoistische Japan ihrem reli- 
  
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
548. 
giösen Gepräge die hervorstechendsten Züge geben. 
Der Buddhismus, obschon innerhalb des Hin- 
duismus als eine seiner Sekten entstanden, ist das 
Gemeingut aller drei Kultursphären, d. h. nicht 
bloß des Hinduismus, sondern auch des Konfu- 
zianismus und Schintoismus geworden. Aber er 
bildet weder hier noch dort eine „Religionsgesell- 
chaft“ in dem Sinn, daß sich neben einer kon- 
fuzianischen oder schintoistischen Religionsgesell- 
chaft seit der Einführung des Buddhismus eine 
buddhistische Religionsgesellschaft gebildet hätte, 
ähnlich wie sich durch Einführung des Christen- 
tums christliche Religionsgesellschaften in China 
und Japan gebildet haben. Zwar läßt sich sagen, 
daß der Buddhismus die Religion Chinas und 
Japans geworden ist. Wenn ein Chinese oder 
Japaner religiös gesinnt ist, so ist er Buddhist. 
Aber der chinesische Buddhist bleibt Konfuzianer 
und der japanische Buddhist Schintoist. Einen 
wirklichen Unterschied des Bekenntnisses gibt es 
weder für den Chinesen noch Japaner. Wir 
können daher wohl von buddhistischen oder kon- 
fuzianischen oder schintoistischen Kultusstätten und 
Kultusdienern (Bonzen) reden, aber nicht von 
einer buddhistischen, konfuzianischen, schintoisti- 
schen Bevölkerung. Darum läßt sich auch keine 
chinesische oder japanische Religionsstatistik auf- 
stellen, welche die Bevölkerung nach Religions- 
gesellschaften scheidet als buddhistische, schinto- 
istische, konfuzianische Kultusgemeinschaft. Alle 
Religionsstatistiken, welche dem Buddhismus in 
China oder Japan eine bestimmte Anzahl von 
Bekennern zuweisen, müssen aus diesem Grund 
als unzuverlässig zurückgewiesen werden, weil die 
erste Voraussetzung für eine differenzierende Re- 
ligionsstatistik, die Differenzierung des Volks 
nach Bekenntnissen selbst fehlt. Kann nun zwar 
von einer Religionsgesellschaft im strengen Sinn 
bei den Bekennern des Hinduismus, Buddhis- 
mus, Konfuzianismus, Schintoismus nicht die 
Rede sein, so bilden sie doch im weiteren Sinn 
eine Gemeinschaft, welche gerade durch die Re- 
ligion in einem besondern Verhältnis zur staat- 
lichen und gesellschaftlichen Ordnung steht, so- 
wohl unter dem Gesichtspunkt der Abhängigkeit 
vom Staat als unter dem Gesichtspunkt des Ein- 
flusses auf das geistige, sittliche, kulturelle Leben 
des Volks. 
II. Der Hinduismus teilt mit dem Islam 
die religiöse Vorherrschaft auf der Gangeshalb- 
insel. Er faßt alle Bekenner der brahmanischen 
Religion zu einer Gemeinschaft zusammen, die 
nach dem letzten Zensus (1900) 207 Millionen 
der Gesamtbevölkerung beträgt, während die dem 
mesem ergebene Bevölkerung 62 ½ Millionen 
zählt. 
1. Kultus. Die brahmanische Religion be- 
ruht auf den uralten Überlieferungen eines unter 
dem Namen Brahma ursprünglich gepflegten 
Opferkultus. Seine Hüter und Pfleger waren die 
Brahmanen. Das Wort „Brahma“ ist zum 
 
	        
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