Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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derseits nicht aus dem Auge lassen, daß diese 
Theorie, nachdem sie einmal ohne Rücksicht auf 
die Tatsachen geschaffen war, gewaltig auf die 
Verhältnisse zurückwirkte. Je mehr sich im Lauf 
der Jahrhunderte die brahmanische Kultur be- 
festigte, um so mehr gelang es der Priesterkaste, 
durch ihren religiösen Einfluß der indischen Ge- 
sellschaft die Physiognomie ihres eignen geistigen 
Lebens aufzudrücken. War dem Adel die Präro- 
gative der politischen und wirtschaftlichen Macht 
zugefallen, so blieb der brahmanischen Priester- 
kaste die Pflege des geistigen Lebens als unter- 
scheidender und auszeichnender Beruf vorbehalten. 
Recht und Sitte mit ihrem fein ausgesponnenen 
Gewebe von Satzungen und Gebräuchen, die 
philosophischen Systeme mit ihren zu den kühnsten 
Vorstellungen sich emporschwingenden Spekulatio- 
nen, das literarische Schaffen in der Vielseitigkeit 
und Fülle der von zahlreichen brahmanischen 
Schulen gepflegten Wissenszweige, die Kunst in 
den Schöpfungen einer überreichen Architektur und 
Plastik, kurz alles, was der indische Genius im 
Lauf einer dreitausendjährigen Entfaltung aus- 
gesonnen und ausgesponnen hat, steht so voll- 
ständig im Bann des religiösen Einflusses der 
brahmanischen Kaste, daß der ihrer Pflege unter- 
stehende Kultus die ureigenste Quelle wurde, aus 
der das gesamte geistige Leben strömte. Getragen 
von der Gunst der Fürsten, erscheint die in der 
Priesterkaste immer lebendig gebliebene religiöse 
überlieferung als die eigentliche Bildnerin und 
Erzieherin des Volks. Und es muß anerkannt 
werden, daß in der Pflege der Wissenschaft und 
Kunst der Brahmanismus dem Volk einen Schatz 
geistiger Güter vermittelt hat, der, ob auch an 
innerem Wert weit hinter den unvergänglichen 
Schätzen der Antike und noch mehr des Christen- 
tums zurückbleibend, doch überall nicht bloß einen 
außerordentlichen Ausschwung intellektueller und 
künstlerischer Kraft verrät, sondern auch eine nicht 
unbedeutende Höhe sittlicher Auffassung in den 
großen Fragen des Lebens erreichte. Die Er- 
lösungssehnsucht war die treibende Kraft des reli- 
giös-philosophischen Forschens. In dem Ideal 
der Erlösung als dem Endziel alles Strebens ver- 
einen sich die brahmanischen Schulen der Philo- 
sophie. Durch diesen ernsten Grundzug ragt die 
Weltanschauung der Inder zweifellos über die 
griechische hinaus. Mag sich die Mystik des Hindu. 
in ganz inhaltslose Begriffsformen verirren, immer 
wieder tauchen die Ideen der Gottesgemeinschaft, 
der Erlösung, der Buße und Läuterung, strenger 
Strafe oder ewiger Seligkeit im Jenseits auf. 
Diese Gedanken und Strebungen verleihen dem 
altindischen Geistesleben, wie es sich in Kunst und 
Peesie ausspricht, vielfach ein ernstes und ideales 
Gepräge. Aber daneben laufen spitzfindige Grü- 
belei und üppige Weichlichkeit, abstruse Philo- 
sophie und tolle Phantastik, schwärmerische Welt- 
flucht und leidenschaftlicher Lebensgenuß unver- 
mittelt und unversöhnt in den seltsamsten Gegen- 
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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sätzen und Widersprüchen nebeneinander her. Dreie 
Jahrtausende haben das Ihrige zu diesem Chaos 
von religiösen und sittlichen Gegensätzen in zahl- 
reichen, immer neu entstehenden Sekten und 
Schulen gearbeitet. Seinen Höhepunkt erreicht 
dieses Wirrwarr in der modernen Kaste und Sekte. 
3. Moderne Kasten. In der altindischen 
Staats= und Gesellschaftsordnung waren Kaste 
und Sekte scharf getrennt; die Kaste war ein 
soziales, die Sekte ein religiöses Gebilde. Das 
Kastenwesen blieb zwar schon in alter Zeit nicht 
mehr auf die vier großen typischen Hauptgruppen, 
wie sie die Staatstheorie der brahmanischen Gesetz- 
bücher aufstellte, beschränkt. Die Verfasser der 
Gesetzbücher konnten sich unmöglich die Inkon- 
gruenz ihrer Theorie mit den sie umgebenden Tat- 
sachen verhehlen. Der Gegensatz zwischen Staats- 
theorie und Staatsleben wuchs, je mehr sich 
bei fortschreitender Zivilisation die große Masse 
des Volks den verschiedenartigsten Berufen zu- 
wandte, die dann wiederum zu besondern Ein- 
heiten sich zusammenschlossen. Die brahmanischen 
Gesetzgeber fühlten die Unzulänglichkeit der eignen 
Theorie und die Notwendigkeit der Wirklichkeit, 
gewisse Konzessionen zu machen. Die Theorie, 
wonach jede Kaste auf ihre genau abgegrenzte 
Berufstätigkeit beschränkt blieb, wurde dahin er- 
weitert, daß man zunächst den oberen Klassen die 
Lebens= und Berufsart der im System folgenden 
Kaste zu führen erlaubte. Man blieb dabei nicht 
stehen, sondern ließ unter dem Zwang der Tat- 
sachen Beschäftigungen, die ursprünglich als den 
niederen Kasten eigentümlich galten, auch für die 
oberen zu. Aber alle diese theoretischen Konzessionen 
wurden schnell überholt von der Macht der Wirklich- 
keit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. 
Seit uralter Zeit war in dem wirtschaftlichen Leben 
Indiens das natürliche Prinzip der Arbeits- 
teilung in der Gestalt der körperschaftlichen Or- 
ganisation tätig. Unterschiedene Erwerbstätig- 
keiten, die wirtschaftlich eine engere Gemeinschaft 
als Berufsgenossenschaft bildeten, wuchsen gesell- 
chaftlich zu einer durch Sitte und Brauch ab- 
geschlossenen, körperschaftlichen Gruppe zusammen, 
welche wirtschaftlich durch denselben Einzelberuf, 
sozial durch dasselbe Sonderrecht charakterisiert 
war. Dieser körperschaftlich organisierte Unter- 
schied der Erwerbstätigkeit wurde der Ausgangs- 
punkt des in unzählige Gruppen gespaltenen 
Kastenwesens des modernen Indiens. Die brah- 
manische Religion als solche hatte mit diesen 
berufsgenossenschaftlich gegliederten Gruppen und 
Klassen nichts zu tun. Diese waren ein rein 
natürliches soziales Produkt, Zünfte und Gilden, 
aber keine von der Staatstheorie der Brahmanen 
geschaffene Kasten. Und als Zunft und Gilde, 
d. h. als körperschaftlich gegliederte Organisation 
des Handwerks und des Handels hätten sie sich 
ähnlich der germanischen Zunft und Gilde natür- 
lich weiter entwickelt, ohne zur Kaste zu erstarren, 
wenn nicht die auf religiösem und geistigem Ge- 
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