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derseits nicht aus dem Auge lassen, daß diese
Theorie, nachdem sie einmal ohne Rücksicht auf
die Tatsachen geschaffen war, gewaltig auf die
Verhältnisse zurückwirkte. Je mehr sich im Lauf
der Jahrhunderte die brahmanische Kultur be-
festigte, um so mehr gelang es der Priesterkaste,
durch ihren religiösen Einfluß der indischen Ge-
sellschaft die Physiognomie ihres eignen geistigen
Lebens aufzudrücken. War dem Adel die Präro-
gative der politischen und wirtschaftlichen Macht
zugefallen, so blieb der brahmanischen Priester-
kaste die Pflege des geistigen Lebens als unter-
scheidender und auszeichnender Beruf vorbehalten.
Recht und Sitte mit ihrem fein ausgesponnenen
Gewebe von Satzungen und Gebräuchen, die
philosophischen Systeme mit ihren zu den kühnsten
Vorstellungen sich emporschwingenden Spekulatio-
nen, das literarische Schaffen in der Vielseitigkeit
und Fülle der von zahlreichen brahmanischen
Schulen gepflegten Wissenszweige, die Kunst in
den Schöpfungen einer überreichen Architektur und
Plastik, kurz alles, was der indische Genius im
Lauf einer dreitausendjährigen Entfaltung aus-
gesonnen und ausgesponnen hat, steht so voll-
ständig im Bann des religiösen Einflusses der
brahmanischen Kaste, daß der ihrer Pflege unter-
stehende Kultus die ureigenste Quelle wurde, aus
der das gesamte geistige Leben strömte. Getragen
von der Gunst der Fürsten, erscheint die in der
Priesterkaste immer lebendig gebliebene religiöse
überlieferung als die eigentliche Bildnerin und
Erzieherin des Volks. Und es muß anerkannt
werden, daß in der Pflege der Wissenschaft und
Kunst der Brahmanismus dem Volk einen Schatz
geistiger Güter vermittelt hat, der, ob auch an
innerem Wert weit hinter den unvergänglichen
Schätzen der Antike und noch mehr des Christen-
tums zurückbleibend, doch überall nicht bloß einen
außerordentlichen Ausschwung intellektueller und
künstlerischer Kraft verrät, sondern auch eine nicht
unbedeutende Höhe sittlicher Auffassung in den
großen Fragen des Lebens erreichte. Die Er-
lösungssehnsucht war die treibende Kraft des reli-
giös-philosophischen Forschens. In dem Ideal
der Erlösung als dem Endziel alles Strebens ver-
einen sich die brahmanischen Schulen der Philo-
sophie. Durch diesen ernsten Grundzug ragt die
Weltanschauung der Inder zweifellos über die
griechische hinaus. Mag sich die Mystik des Hindu.
in ganz inhaltslose Begriffsformen verirren, immer
wieder tauchen die Ideen der Gottesgemeinschaft,
der Erlösung, der Buße und Läuterung, strenger
Strafe oder ewiger Seligkeit im Jenseits auf.
Diese Gedanken und Strebungen verleihen dem
altindischen Geistesleben, wie es sich in Kunst und
Peesie ausspricht, vielfach ein ernstes und ideales
Gepräge. Aber daneben laufen spitzfindige Grü-
belei und üppige Weichlichkeit, abstruse Philo-
sophie und tolle Phantastik, schwärmerische Welt-
flucht und leidenschaftlicher Lebensgenuß unver-
mittelt und unversöhnt in den seltsamsten Gegen-
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.)
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sätzen und Widersprüchen nebeneinander her. Dreie
Jahrtausende haben das Ihrige zu diesem Chaos
von religiösen und sittlichen Gegensätzen in zahl-
reichen, immer neu entstehenden Sekten und
Schulen gearbeitet. Seinen Höhepunkt erreicht
dieses Wirrwarr in der modernen Kaste und Sekte.
3. Moderne Kasten. In der altindischen
Staats= und Gesellschaftsordnung waren Kaste
und Sekte scharf getrennt; die Kaste war ein
soziales, die Sekte ein religiöses Gebilde. Das
Kastenwesen blieb zwar schon in alter Zeit nicht
mehr auf die vier großen typischen Hauptgruppen,
wie sie die Staatstheorie der brahmanischen Gesetz-
bücher aufstellte, beschränkt. Die Verfasser der
Gesetzbücher konnten sich unmöglich die Inkon-
gruenz ihrer Theorie mit den sie umgebenden Tat-
sachen verhehlen. Der Gegensatz zwischen Staats-
theorie und Staatsleben wuchs, je mehr sich
bei fortschreitender Zivilisation die große Masse
des Volks den verschiedenartigsten Berufen zu-
wandte, die dann wiederum zu besondern Ein-
heiten sich zusammenschlossen. Die brahmanischen
Gesetzgeber fühlten die Unzulänglichkeit der eignen
Theorie und die Notwendigkeit der Wirklichkeit,
gewisse Konzessionen zu machen. Die Theorie,
wonach jede Kaste auf ihre genau abgegrenzte
Berufstätigkeit beschränkt blieb, wurde dahin er-
weitert, daß man zunächst den oberen Klassen die
Lebens= und Berufsart der im System folgenden
Kaste zu führen erlaubte. Man blieb dabei nicht
stehen, sondern ließ unter dem Zwang der Tat-
sachen Beschäftigungen, die ursprünglich als den
niederen Kasten eigentümlich galten, auch für die
oberen zu. Aber alle diese theoretischen Konzessionen
wurden schnell überholt von der Macht der Wirklich-
keit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens.
Seit uralter Zeit war in dem wirtschaftlichen Leben
Indiens das natürliche Prinzip der Arbeits-
teilung in der Gestalt der körperschaftlichen Or-
ganisation tätig. Unterschiedene Erwerbstätig-
keiten, die wirtschaftlich eine engere Gemeinschaft
als Berufsgenossenschaft bildeten, wuchsen gesell-
chaftlich zu einer durch Sitte und Brauch ab-
geschlossenen, körperschaftlichen Gruppe zusammen,
welche wirtschaftlich durch denselben Einzelberuf,
sozial durch dasselbe Sonderrecht charakterisiert
war. Dieser körperschaftlich organisierte Unter-
schied der Erwerbstätigkeit wurde der Ausgangs-
punkt des in unzählige Gruppen gespaltenen
Kastenwesens des modernen Indiens. Die brah-
manische Religion als solche hatte mit diesen
berufsgenossenschaftlich gegliederten Gruppen und
Klassen nichts zu tun. Diese waren ein rein
natürliches soziales Produkt, Zünfte und Gilden,
aber keine von der Staatstheorie der Brahmanen
geschaffene Kasten. Und als Zunft und Gilde,
d. h. als körperschaftlich gegliederte Organisation
des Handwerks und des Handels hätten sie sich
ähnlich der germanischen Zunft und Gilde natür-
lich weiter entwickelt, ohne zur Kaste zu erstarren,
wenn nicht die auf religiösem und geistigem Ge-
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