Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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biet zur Anerkennung gebrachte Superiorität der 
Brahmanenkaste als Hüterin und Pflegerin der 
in den Rechtsbüchern überlieferten Sitten und 
Gebräuche in hohem Grad auf die weitere Ent- 
wicklung der sozialen Zustände eingewirkt hätte. 
Sie war im wesentlichen die Ursache, daß sich die 
verschiedenen, durch Berufsgemeinschaft gebildeten 
korporativen Gruppen der indischen Gesellschaft 
in ihrer Organisation dem starren Modell der 
Brahmanenkaste näherten und so zu dem wurden, 
wozu sie die Theorie der Brahmanen schon vorher 
gemacht hatte, zur Kaste. Obschon daher das 
Problem der modernen Kaste als solches ein 
soziales Problem ist, so ist es doch durch den 
tiefgehenden Einfluß der brahmanischen Über- 
lieferungen ein religiöses geworden. Die Kaste 
wurde nicht bloß das Wahrzeichen des Hinduis- 
mus, sondern auch dessen unerschütterliche Grund- 
feste durch die gleichzeitige Entwicklung der Sekten. 
Die enge Verbindung beider erhob die Kaste zu 
einem religiösen Faktor ersten Rangs. Indem die 
religiösen Sekten sich vermehrten, gab eine jede 
der neuentstandenen Sekten auch einer Anzahl 
neuer Kasten das Leben. Auf diese Weise haben 
sich die großen Kastengemeinschaften nach und nach 
in Tausende von Einzelkasten zerbröckelt, die keine 
Heirat untereinander zulassen, und weder zusammen 
essen noch voneinander etwas annehmen dürfen, so 
daß jede gegenseitige Unterstützung ausgeschlossen. 
Erst die Sekte hat die Kaste zu dem Fluch In- 
diens gemacht, der bis zur Stunde auf mehr als 
200 Millionen lastet. 
4. Die moderne Sekte. Der Ursprung 
des Sektenwesens reicht in die ältere Epoche des 
Hinduismus zurück. Viele Sekten scheinen aus 
Widerspruch gegen die streng brahmanischen Über- 
lieferungen als volkstümliche Kulte entstanden zu 
sein, deren Lehrer und Bekenner aus allen Klassen 
der Bevölkerung sich zusammenfanden. Die allen 
Sekten gemeinsame charakteristische Eigenschaft ist 
die Verehrung einer bestimmten Gottheit, deren 
Kult über dem aller andern Gottheiten erhoben 
wird. Die Verehrer der besondern Gottheiten ver- 
einigten sich zu neuen, abgeschlossenen Gemein- 
schaften. Aber unbeschadet dieser Selbständigkeit 
als religiöse Körperschaft und der Verschieden- 
heiten im Ritus hat sich bis zur Stunde die Ein- 
heit des Ganzen als eine einzige, von den uralten 
Uüberlieferungen der brahmanischen Kaste durch- 
drungene Klasse erhalten. Die Gottheiten, welche 
den Gegenstand des besondern Kultus bilden, 
lassen sich fast ausschließlich mit den beiden Haupt- 
gottheiten Schiwa und Wischnu identifizieren, so 
daß die Masse der Sekten in zwei Hauptgruppen, 
eine schiwaitische und eine wischnuitische zerfällt. 
In der Theorie stehen sich die beiden Gruppen 
schroff, ja zum Teil feindlich gegenüber; aber in 
der Proxis wird dieser Gegensatz durch den Ek- 
lektizismus, der dem Verehrer der einen Gottheit 
den Kult der andern Gottheit gestattet, innerhalb 
des Volkes selbst so sehr abgeschwächt, daß er sich 
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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tatsächlich auf die berufenen Hüter der besondern 
Kulte beschränkt, zwischen denen allerdings die 
streitsüchtige Eifersucht nicht selten Ausbrüche einer 
heftigen, ja blutigen Fehde hervorruft. Den 
Mittelpunkt der einzelnen Sekten bilden ihre Tem- 
pel und die mit diesen verbundenen klösterlichen 
Gemeinschaften, Maths genannt, deren Insassen 
unter einem frei gewählten Oberhaupt von den 
Erträgnissen der zugehörigen Ländereien und der 
nie versagenden Freigebigkeik der Gläubigen leben. 
Einzelne Sekten beziehen für den Unterhalt der 
Tempel und Klöster ganz außerordentliche Ein- 
künfte aus den Ländereien. In den meisten Fällen 
kennzeichnet sich der religiöse Glaube dieser Sekten 
als eine Mischung von schwärmerischem Mystizis- 
mus, grobem Aberglauben und ausschweifendem 
Götzendienst. Viele Sekten bilden eine Art ge- 
heimer Gesellschaft, deren Bücher und Bräuche 
nur den Eingeweihten offen stehen. Der sektarische 
Einfluß ist in sittlicher Beziehung nicht weniger 
als in gesellschaftlicher zum Teil sehr ungünstig, 
nicht selten tief unmoralisch, namentlich durch die 
Geheimlehren und geheimen Bräuche, die bald 
einem blutigen Fanatismus bald einer grob aus- 
schweifenden Sinnlichkeit dienen. Vor allem sind 
den schiwaitischen Sekten Orgien der wildesten 
Ausschweifung und blutigsten Selbstpeinigung 
eigen. Welchen Einfluß diese unreinen, jedem 
Schamgefühl spottenden Überlieferungen im Lauf 
der Zeit auf das Sittlichkeitsgefühl der breiten 
Massen ausüben mußten, läßt sich leicht erraten. 
Einzelne reformatorische Sekten, wie die Kabir 
und Sikh, übten einen wohltätigen Einfluß. Ge- 
meinsam mit ihnen bewahren die besseren Über- 
lieferungen, die sich aus dem altbrahmanischen 
Glauben in den modernen Hinduismus noch hin- 
übergerettet, die Religion und Sittlichkeit der 
großen Masse vor einem vollständigen Zerfall. 
Zäh hält der Hinduismus an den durch Jahr- 
tausende gefestigten Uberlieferungen fest. Zweimal 
wurde ihm seine Herrschaft streitig gemacht, durch 
den Buddhismus und durch den Mohammedanis- 
mus. Der Buddhismus schwand aus Indien. 
Die Zwingherrschaft des Hinduismus blieb. Und 
allen Eroberungen des Islams zum Trotz hält er 
vier Fünftel der Riesenbevölkerung im Bann seiner 
tiefeingewurzelten religiösen Widerstandskraft ge- 
fangen. Über alle Gegensätze dieser Tausende von 
Sekten und Kasten hat zwar der starke Arm und 
die politische Klugheit des englischen Eroberers 
gesiegt und die aus so ungleichartigen Elementen 
zusammengesetzte Volksmasse mit seinem politischen 
Einfluß bis in die letzten Winkel durchdrungen. 
Moderne Zivilisation findet auf allen Wegen Ein- 
gang ins Volksleben. Wissenschaft und Industrie, 
Polizei und Sanitätswesen, alle Eroberungen und 
Anforderungen des modernen Lebens haben den 
Kampf mit der alten Überlieferung der Kasten 
und Sekten aufgenommen. Aber dieses Aufgebot 
der besten Kräfte hat die alten Götter nicht zu 
stürzen vermocht. Europäische Zivilisation kann
	        
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