Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

555 Religionsgesellschaften. 
die Oberfläche glätten. Mehr vermag sie, so will 
es scheinen, nicht. Alles bleibt nach wie vor durch- 
strömt von jenem pantheistischen Gedanken, der 
die Grundlage des Hinduismus ist. Unter der 
erstarrten Schicht des Kastensystems glüht die 
brahmanische Überlieferung als ein weit aus- 
gesponnenes, zum Teil mit der haarsträubendsten 
Unsittlichkeit verflochtenes System der abergläu- 
bigen Zauberkunst der Jogis und Fakirs fort. 
Niemand kann die tiefe Kluft übersehen, welche 
die heidnische Bildung des Hindu heute noch von 
der christlichen Kultur trennt. 
III. Buddhismus. 1. Ausbreitung. Der 
Buddhismus teilt sich mit dem Mohammedanis- 
mus in die Herrschaft Asiens als eine der ältesten 
und einflußreichsten Religionen. Mag man von 
dem krassen Götzendienst dieses Bekenntnisses in 
seiner späteren Entartung noch so gering denken, 
so wird man doch zugeben müssen, daß die Schnel- 
ligkeit und der Enthusiasmus, womit die buddhi- 
stische Lehre sich über ganz Ostasien ausbreitete, 
und die dritthalb tausend Jahre, durch welche sie 
sich erhalten hat, deutlich für ihre große Bedeu- 
tung sprechen, namentlich unter den breiten Volks- 
massen. Wenn auch das Wort Eitels, „die Ge- 
schichte Ostasiens ist die Geschichte des Buddhis- 
mus“, nicht ganz zutrifft, so hat der Buddhismus 
doch in Ostasien einen religiös-sittlichen Einfluß 
ausgeübt, den kein anderer Einfluß bis jetzt über- 
troffen hat. Nicht bloß in den ehedem unzivili- 
sierten Ländern des südöstlichen Asien, in Siam, 
Birma, Kambodscha, und in den mongolischen 
Steppen des zentralen und nördlichen Asien er- 
rang er sich unbestrittene Geltung, sondern auch 
in dem hochzivilisierten China und in Japan fand 
das gemeine Volk im Buddhismus viel mehr Be- 
friedigung seiner religiösen Bedürfnisse, als sie 
ihm der nationale und herrschende Volksglaube 
bieten konnte. Obschon das buddhistische Bekennt- 
nis als Religionsgesellschaft im engeren Sinn nur 
auf wenige Länder sich erstreckt, so gehören doch 
gegen 500 Mill. Bewohner Asiens, d. h. etwa ein 
Drittel der Bevölkerung der Erde, zu denen, welche 
dem Buddha durch Ausübung buddhistischer Ge- 
bräuche öffentlich und privatim mit ebenso großer 
Andacht ihre Verehrung darbringen, wie sie ihrem 
Geisterkultus und Ahnenkultus huldigen. Das 
Geheimnis dieser rapiden Ausbreitung liegt darin, 
daß der Buddhismus sich überall, wo er auftritt, 
den alten Religionsanschauungen zu akkommo- 
dieren weiß. Meistens findet er in der Beschaffen- 
heit der herrschenden religiösen Anschauungen Ver- 
hältnisse vor, die seiner Propaganda nur Vorschub 
leisten. Mit einer Art von Mimikry versteht es 
dabei der Buddhismus, überall die Farbe des 
Bodens, auf dem er sich niederläßt, anzunehmen 
und sich der neuen Umgebung anzupassen. Anstatt 
die fremden Religionen, mit denen er in Berührung 
kommt, mit Feuer und Schwert auszurotten wie 
der Islam, zieht er es vielmehr vor, sie sich auf 
friedlichem Weg zu unterwerfen, indem er ihren 
(Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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Göttern unter Anerkennung und Belassung ihrer 
Besitztitel gastliche Aufnahme in seinem Pantheon 
gewährt. Das hat er in Tibet und der Mongoleie 
mit dem Schamanismus, in China mit dem Kon- 
fuzianismus, in Japan mit dem Schintoismus 
getan. Um der neuen Religion willen braucht 
weder der Chinese noch der Japaner einen einzigen 
seiner alten Götzen zu verbrennen. Diesem An- 
passungsvermögen an alle Bekenntnisse und Be- 
rufe verdankt der Buddhismus seinen Erfolg. 
2. Entwicklung und Organisation 
in Indien. Obschon als eine Sekte des Hin- 
duismus in Indien entstanden, ist der Buddhis- 
mus doch so gut wie vollständig von dem Boden 
des eigentlichen Indien verschwunden, so daß in 
Indien überhaupt nicht mehr von einer buddhisti- 
schen Religionsgesellschaft die Rede sein kann, 
wenn man nicht die Insel Ceylon im Süden und 
das Königreich Nepal im Norden einbegreift. 
Trotzdem ist es vom religions= und kulturgeschicht- 
lichen Gesichtspunkt aus notwendig, seine ältere 
Entwicklung und Organisation innerhalb Indiens 
selbst stets im Auge zu behalten, um seinen noch 
heute fortwirkenden Bestand außerhalb Indiens 
richtig beurteilen zu können. Dies um so mehr, 
als die einzigen Länder, in denen die Buddhisten 
als eine Religionsgesellschaft im strengen Sinn 
bestehen, Birma, Siam, Kambodscha, die ältere 
Verfassung des Buddhismus am treuesten in der 
noch immer lebenskräftigen Aszetengemeinde be- 
wahrt haben. Der Buddhismus entstand im 
6. Jahrh. v. Chr. aus unscheinbaren Anfängen 
im Nordosten Indiens als eine von Buddha ge- 
gründete Gemeinde indischer Aszeten, die sich die 
Aufgabe stellte, einen neuen Weg der Erlösung 
durch Verkündung der vier Grundwahrheiten vom 
Leiden zu zeigen. Dogmatisch ist seine ursprüng- 
liche Lehre der vollendete Atheismus, durch die 
Leugnung des dem Hinduismus eigentümlichen 
Gottes= oder Brahmabegriffs, moralisch ein aus- 
gesprochener Nihilismus durch die Lehre vom Ende 
aller Seelenwanderungen im Nirwana, sozial eine 
Art Kommunismus durch die Geringschätzung des 
Kastenwesens. Die Verfassung der Aszetengemeinde 
beruhte auf dem gemeinsamen Leben in kleineren 
oder größeren Verbänden und Niederlassungen, 
jede unter einem besondern Haupt. Ihren Unter- 
halt beziehen die Mönche aus dem gemeinsamen 
Besitz der Güter und Schenkungen und aus dem 
täglichen Bettelgang, zu dem jeder verpflichtet ist. 
Die ursprüngliche Aszetengemeinde entwickelte sich 
allmählich zu einer volkstümlichen Religionsgesell- 
schaft. Im 3. Jahrh. v. Chr. wurde der Buddhis- 
mus durch Kaiser Asoka zur Staatsreligion neben 
dem Brahmanismus erhoben und mit großen 
Privilegien ausgestattet. Seitdem verbreitete er 
sich schnell über ganz Indien, ohne jedoch jemals 
den Brahmanismus an irgend einem Punkt zu 
verdrängen. Von neuem wurde seine Stellung in 
Indien staatsrechtlich und sozial gefestigt durch 
den indisch-skythischen Kaiser Kanischka im 1. Jahrh. 
 
	        
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