Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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n. Chr. Um diese Zeit spaltete sich die buddhisti- 
sche Gemeinde in die beiden Gruppen, genannt 
Mahayana und Hinayana. Während das Ma- 
hayana als nördlicher Zweig sich über das östlich 
gelegene Asien bis nach China und Japan auszu- 
breiten begann, stritten innerhalb Indiens selbst 
beide Schulen um die Vormacht, um zuletzt ge- 
meinsam der stärkeren Macht des Brahmanismus 
zu unterliegen und gänzlich vom indischen Boden 
zu verschwinden. Die Erinnerung an den Bud- 
dhismus lebt nur in den zahllosen Ruinen fort, die 
vom hohen Norden Indiens bis tief in den Süden 
die Gangeshalbinsel bedecken. Alle Anzeichen weisen 
darauf hin, daß der Buddhismus an innerer Kraft- 
losigkeit zu Grunde gegangen ist. Zur geistigen 
Entwicklung Indiens hat weder seine Moral noch 
seine Kultur das Geringste beigetragen. Am aller- 
wenigsten vermochte er das soziale und staatliche 
Grundübel Indiens, das Kastenwesen zu über- 
winden. Obschon der Buddhismus theoretisch die 
Kastentheorie bekämpfte, so hat er praktisch doch 
nicht das geringste getan, um eine bessere Gestal- 
tung der sozialen Verhältnisse herbeizuführen. 
Worauf es ihm ankam, war einzig und allein dar- 
zutun, daß die Kaste für das Streben nach Er- 
lösung wertlos sei. Es ist darum unrichtig, Buddha 
als den Aupheber der starren, durch orthodoxe und 
aristokratische Anschauungen aufgerichteten Satzun- 
gen und als großen Reformator auf sozialem Ge- 
biet hinzustellen. Selbst zur Zeit seiner höchsten 
Blüte findet sich von einem Einfluß auf die tat- 
sächlichen Zustände der Gesellschaft, von einer Mil- 
derung der Klassengegensätze durch den Buddhis- 
mus keine Spur. Nach wie vor lastete der Fluch 
der Kaste auf Indien mit demselben Druck. Einen 
religiösen und kulturellen Erfolg hat er nur bei 
Völkern anderer Rasse erzielt. Doch wohl zu 
merken, in einer Form, welche die Erlösung ohne 
Gott durch den gröbsten brahmanischen Götzen- 
und Bilderkultus ersetzte und die Moral ohne 
Glückseligkeit mit einem Wust des sinnlosesten 
Aberglaubens verquickte. Der vermeintliche Spiri- 
tualismus, den Buddha im Gegensatz zu den 
Brahmanen so sehr betont hatte, führte nach und 
nach zu dem geraden Gegenteil. In abenteuer- 
lichster Weise mischte er sich mit dem unzüchtigen 
Schiwakultus. Der Buddhismus ist nicht mehr 
jene pessimistische Leidens- und Entsagungslehre, 
welche Buddha erstrebte, sondern eine bunte 
Musterkarte des mannigfaltigsten Wahnglaubens, 
Aberglaubens und des schmutzigsten und ver- 
worfensten Götzendienstes. 
3. Birma, Siam, Kambodscha, diese 
drei alten Königreiche, welche einst ganz unter dem 
religiösen und kulturellen Einfluß des brahmani- 
schen und des buddhistischen Indien standen, stellen 
in ihrer eignen Bevölkerung noch eine bud- 
dhistische Religionsgesellschaft im engeren Sinn 
dar. In allen drei Ländern bilden die Bekenner 
des Buddhismus eine geschlossene Gemeinschaft, 
welche durch das Band ein und derselben Über- 
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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lieferung zusammengehalten werden. Hüterin 
dieser Uberlieferung ist überall die buddhistische 
Bonzengemeinde, begründet auf der alten bud- 
bhistischen Aszetengemeinde und im wesentlichen 
nach derselben Verfassung organisiert. Am besten 
entwickelt und am straffsten zusammengehalten ist 
diese buddhistische Gemeinde als organisierte Re- 
ligionsgesellschaft in Birma. Unter einer Be- 
völkerung von 8 Mill. gibt es 7 Mill. Buddhisten. 
Der birmanische Buddhist ist ganz und ausschließ- 
lich dem Glauben an Buddha ergeben. Und die 
Bonzengemeinde ist als Pflegerin des Buddha- 
kultus schlechthin die religiöse und geistige Macht 
des Landes, auch nachdem letzteres unter britisches 
Zepter gekommen ist. Das Bonzentum durch- 
dringt das Volksleben in einer Weise, daß es die 
Seele der Nation geworden. In der Organisa- 
tion der birmanischen Bonzengemeinde unterschei- 
det man Novizen, ordinierte Bonzen, Vorsteher 
der Bonzen. Jedes Kloster hat ein von der Ge- 
samtheit der Insassen gewähltes Oberhaupt; die 
Klöster eines Distrikts bilden eine Provinzial- 
gruppe, die von einem höheren Bonzen geleitet 
wird. Über allen Klöstern steht das Ratskollegium 
der Sadaw, „Höchste Wächter der Lehre“, das 
alle Angelegenheiten nicht bloß der Gesamtheir 
der Klöster, sondern der buddhistischen Reli- 
gionsgesellschaft in Birma überhaupt seiner Ju- 
risdiktion unterwirft. Höchstes Haupt derselben 
war früher als erster Bonze des Landes der König 
selbst, der seine oberste Gewalt durch einen seiner 
Minister ausübte. Jetzt ist diese Gewalt auf einen 
von der Gesamtheit der Klöster gewählten und 
von dem britischen Gouverneur bestätigten höchsten 
Bonzen des Landes übergegangen. Ein beson- 
derer Aufsichtsrat überwacht die Verwaltung der 
Güter der Pagoden und Klöster und die Instand- 
haltung der Bauten. Jeder Birmane muß sich 
eine kurze Zeit der Disziplin des Klosters unter- 
worfen haben, indem er als Knabe die Kloster- 
schule besucht. Ohne diesen Besuch kann er kein 
vollberechtigtes Glied der staatlichen Gesellschaft 
sein; sein Zeugnis vor Gericht war sogar früher 
nicht rechtsgültig. Weil alle einmal durchs 
Kloster gegangen sein müssen, so lernen die meisten 
Birmanen lesen und schreiben. Daraus erklärt 
sich der gewaltige Einfluß des Buddhismus auf 
das birmanische Volk bis auf den heutigen Tag. 
Das Volk hängt an seinen Buddhas wie an 
seinem eignen Wesen. In kultureller Beziehung 
ist dieser Einfluß kein ungünstiger gewesen, inso- 
fern er eine, wenn zwar sehr oberflächliche, doch 
allgemeine Bildung vermittelte. Aber es bleibt 
gleichwohl die Kultur des Halbbarbaren. Sie 
zeigt sich am deutlichsten in dem abergläubigsten 
Geisterkultus, der die Seele der phantastischen 
Gebräuche des religiösen Lebens geworden ist. Je 
enger jedoch das Volksleben mit dem buddhisti- 
schen Kult verwachsen ist, um so zäher ist der 
Widerstand gegen das Christentum, das unter der 
birmanisch-buddhistischen Religionsgesellschaft nur
	        
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