Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

561 Religionsgesellschaften. 
hinausreicht. Als Religionsgesellschaft im strengen 
Sinn besteht der Lamaismus zwar nur in Tibet; 
im weiteren Sinn jedoch bildet er über ganz 
China eine besondere religiöse Gemeinschaft neben 
dem Buddhismus in dessen älterer Form. Der 
chinesischen Zentralregierung in Peking einerseits 
unterworfen und in seiner Verwaltung von ihr 
abhängig, ist er anderseits doch auch zugleich durch 
seinen Einfluß auf die mongolischen Steppen- 
völker ein politischer Faktor, auf dessen freundliche 
Beziehungen die Machthaber in Peking sehr be- 
dacht sind. 
IV. Konfuzianismus. Die unter dem Namen 
des Konfuzius überlieferte Lehre wurde zuerst als 
Staatstheorie entwickelt und nahm erst viele 
Jahrhunderte später den Charakter einer Staats- 
religion an. Alter als der Konfuzianismus ist 
die altchinesische Volksreligion und Reichsreligion. 
1. Die alte Reichsreligion. Der alt- 
chinesische Staat war ursprünglich ein Feudal- 
reich, d. h. ein Staatenbund unter einem gemein- 
samen Reichsoberhaupt, zu dem die Einzelfürsten 
im Verband des Lehnsverhältnisses standen. Aus 
diesem Feudalreich wurde gegen Ende des 3. Jahrh. 
v. Chr., nach Zerstörung der Lehnsfürstentümer, ein 
nach Provinzen einheitlich gegliedertes Reich mit 
dem Reichsoberhaupt als einzigem und absolutem 
Monarchen an der Spitze. In dieser Grundver- 
fassung hat sich das Reich bis auf den heutigen Tag 
erhalten. Die Religion dieses Reichs weist seit den 
ältesten Zeiten zwei gesonderte Elemente auf, auf 
der einen Seite eine Art Verehrung der Natur- 
geister, auf der andern Seite die Ahnenverehrung. 
Der Ahnenkultus war die eigentliche Religion des 
Volks. Der gemeine Mann hatte keine andere reli- 
giöse Zuflucht als die Manen seiner verstorbenen 
Vorfahren. Deren Wirkungzkreis jedoch blieb auf 
das Wohl und Wehe des eignen Hauses beschränkt. 
Er war im besten Sinn ein häuslicher Kultus, 
der unmittelbar in das Leben der Familie und 
jedes einzelnen eingriff, ohne auf das Verhältnis 
zum Staatsverband Rücksicht zu nehmen. Im 
Gegensatz zum Ahnenkult, insofern dieser ein in- 
times und häusliches Gepräge trägt, steht der 
Kultus der Naturgeister als offizieller Kultus. 
Der Kultus der das Universum bewohnenden und 
beherrschenden Naturgeister mit Schang-ti „dem 
höchsten Herrn“ an der Spitze lag ausschließlich 
in den Händen des Reichsoberhaupts und der 
Beamten. Das Reich unter seinem Kaiser galt 
als die sichtbare Verkörperung des unsichtbaren 
Reichs der Geister unter ihrem Schang-ti. Darum 
waren alle Kultusfunktionen ein Privilegium der 
regierenden Klasse. Eine Priesterkaste wie in In- 
dien gab und gibt es nicht. Bis auf den heutigen 
Tag sind die Inhaber der Regierung die einzigen 
Kultusfunktionäre. Für das eigentliche Volk sind 
sowohl der Schang-ti wie auch das ganze Heer 
der übrigen Naturgeister nicht unmittelbar erreich- 
bar; es genießt deren Schutz nur durch die Ver- 
mittlung und auf die Fürbitte der Obrigkeit. Der 
(Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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Staatsbeamte allein ist der zu Recht bestehende 
Kultusbeamte, und zwar stehen die Kultusfunktionen 
in einem festen und streng geregelten Verhältnis 
einerseits zum Rang und amtlichen Wirkungskreis 
ihres Trägers, anderseits aber auch zu dem Rang 
und der Stellung der Geister, auf die sich die 
Ausübung der priesterlichen Tätigkeit bezieht. Das 
Reichsoberhaupt ist als Sohn und Vertreter des 
Himmels Pontifex maximus für das ganze Reich. 
Einzig und allein der Kaiser ist berechtigt, dem 
Himmel und der Erde, den über den Erdboden 
und die Saaten des Reichs herrschenden Schutz- 
geistern und den heiligen Bergen und Strömen 
des Reichs Opfer darzubringen. Die Würden- 
träger des Reichs sind nur des Kaisers Vertreter. 
Ihre priesterlichen Funktionen fließen aus der 
einen Kultusgewalt des Kaiserlichen Pontifex. 
Dieser Kultus des Schang-ti und der ihm unter- 
geordneten Naturgeister bildet die ursprüngliche 
Staatsreligion. Sie gestaltete das chinesische 
Staatswesen zu einem einzigen Kultusverband mit 
dem Reichsoberhaupt als oberstem Kultusvermittler 
an der Spitze. Ihre festeste Grundlage erhielt 
diese Staatsreligion jedoch in der konfuzianischen 
Lehre vom Staat und der Gesellschaft. Durch die 
Verschmelzung dieser Lehre mit der alten Reichs- 
religion entstand die konfuzianische Staatsreligion 
des modernen China. 
2. Diekonfuzianische Staatsreligion. 
Wenn unter Religion ein System von Glaubens- 
sätzen und Kultusgebräuchen verstanden wird, so 
bildet das Lehrsystem des Konfuzius kein Reli- 
gionssystem. Es fehlt ihm das, was das Wesen 
der Religion ausmacht, die Hinordnung auf die 
überfinnliche Welt. Konfuzius leugnet diese nicht; 
aber in seinen Lehrsprüchen sieht er von Gott 
und den Pflichten gegen Gott vollständig ab. 
Das Göttliche ist ihm repräsentiert im Kaiser. 
Das Reichsoberhaupt ist der Inbegriff des Staats 
und der Gesellschaft. Staat und Gesellschaft 
aber sind das Sichtbarwerden der übersinnlichen 
Welt. Die staatliche und gesellschaftliche Ord- 
nung ist daher nur der Widerschein der über- 
sinnlichen Ordnung. Alles, was es Göttliches 
gibt, als Leitung, Providenz, Harmonie und 
Stetigkeit konzentriert sich im Staat. Daraus 
folgt die Verpflichtung, die seit der ältesten Zeit 
überlieferten Gesetze und Gebräuche des öffent- 
lichen und privaten Lebens zur Richtschnur des 
Handelns zu machen. In der Wiederherstellung 
dieser Uberlieferungen erblickte Konfuzius das Ziel 
seines öffentlichen Wirkens. Konfuzius war Staats- 
mann. Er suchte Einfluß auf die Ereignisse der 
Zeit zu gewinnen. Die richtige Erkenntnis der 
politischen und sittlichen Zustände und der feste 
Wille, den Schäden seiner Zeit abzuhelfen, diese 
beiden Momente sind der Ausgangspunkt und das 
Ziel seines Wirkens. Die Mittel und Wege, 
welche diesem Ziele zuführten, suchte er in der 
Vergangenheit seines Volks. In der Rückkehr zur 
Vergangenheit mit ihrem kraftvollen patriarcha-
	        
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