Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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züglichen Tatbestands des § 166 forderte; dieser 
Antrag kam jedoch nicht zur Beratung. Dieselbe 
Forderung erhob am 23. Mai 1907 der 23. 
Deutsche Protestantentag in Wiesbaden und am 
30. Sept. 1907 die Generalversammlung des 
Evangelischen Bundes in Worms. Nicht wenige 
Gerichtsverhandlungen wegen Beschimpfung der 
katholischen Kirche gaben, wenngleich sie vielfach 
mit Freisprechung endeten, der Bewegung immer 
neue Nahrung. Aus dem Streit um die Anwen- 
dung des Strafgesetzes wurde in der öffentlichen 
Erörterung mehr und mehr ein Kampf gegen die 
katholische Kirche, in welchem nicht mehr die 
Fragen des Rechts, sondern die konfessionellen 
Vorurteile den Ausschlag gaben. 
Der Niederschlag dieser seit beinahe einem Vier- 
teljahrhundert betriebenen Agitation, die eine kaum 
übersehbare Masse von Abhandlungen, Broschüren 
und Zeitungsartikeln hervorrief, zeigt sich in den 
Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch für 
das Deutsche Reich. In der auf Anregung des 
Reichsjustizamts von mehreren Professoren her- 
ausgegebenen „Vergleichenden Darstellung des 
deutschen und ausländischen Strafrechts“ hat im 
Jahr 1906 der Kirchenrechtsprofessor Kahl das 
gesetzgeberische Material über die Religionsdelikte 
ganz im Sinn der von protestantischer Seite auf- 
gestellten Forderungen bearbeitet. Seinen Vor- 
schlägen folgt in wesentlichen Punkten der im 
Jahr 1909 auf Anordnung des Reichsjustizamts 
veröffentlichte „Vorentwurf zu einem deutschen 
Strafgesetzbuch". Die Bestimmungen des Vor- 
entwurfs gegen die Gotteslästerung und gegen die 
Beschimpfung von Religionsgesellschaften lauten: 
„§ 155: Wer öffentlich und böswillig in be- 
schimpfender Weise Gott lästert, wird mit Ge- 
fängnis oder Haft bis zu zwei Jahren bestraft. 
5 156: Wer öffentlich und böswillig eine der 
christlichen Kirchen oder eine andere mit Körper- 
schaftsrechten innerhalb des Reichsgebiets bestehende 
Religionsgesellschaft beschimpft, wird mit Gefäng- 
nis oder Haft bis zu zwei Jahren oder mit Geld- 
strafe bis zu 3000 M bestraft.“ Die Streichung 
der „Einrichtungen und Gebräuche“ der Reli- 
gionsgesellschaften soll, wie die Begründung des 
Vorentwurfs (S. 515) bemerkt, der „ungleichen 
Behandlung der Religionsgesellschaften“ ein Ende 
machen, „da nicht für alle diese Gesellschaften die 
Einrichtungen und Gebräuche von gleicher Be- 
deutsamkeit sind und für einige in viel höherem 
Grad andere Dinge in Betracht kommen, z. B. 
die Stifter der Religionsgesellschaften oder die 
Lehren“. Der Vorentwurf „geht im Einklang 
mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts davon 
aus, daß die Beschimpfung einer Religionsgesell- 
schaft nicht notwendig unmittelbar auf diese selbst 
sich zu beziehen brauche, sondern auch dann vor- 
liegen könne, wenn sich der Angriff unmittelbar 
nur gegen gewisse, das Wesen der Religions- 
gesellschaft im innersten Kern berührende Dinge 
richte. Von diesem Standpunkt aus erscheint die 
Religionsverbrechen. 
  
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besondere Hervorhebung der Einrichtungen und 
Gebräuche nicht erforderlich und schon insofern 
nicht ohne Bedenken, als dadurch die nach Lage 
der Sache gebotene Annahme einer mittel- 
baren Beschimpfung bei Angriffen auf an- 
dere Dinge als auf Einrichtungen oder Ge- 
bräuche der Absicht des Gesetzes widersprechend 
erschwert wird. Vor allem aber wird durch 
die besondere Hervorhebung der Einrichtungen 
und Gebräuche der Anschein erweckt, als ob diese 
ein selbständiges Schutzobjekt bildeten und ihre 
Beschimpfung auch dann unter Strafe gestellt 
werden sollte, wenn darin eine mittelbare Be- 
schimpfung der Religionsgesellschaft nicht zu er- 
blicken ist". Die schon bisher mögliche, aber an- 
geblich „erschwerte“ Bestrafung der mittelbaren 
Beschimpfung der Religionsgesellschaften, begangen 
durch Beschimpfung ihrer „Stifter“, z. B. der 
Reformatoren, soll also künftig erleichtert werden. 
Schwerwiegender ist die vorgeschlagene Anderung 
des subjektiven Tatbestands und des Strafmaßes. 
Die Begründung des Vorentwurfs erläutert das 
Erfordernis der Böswilligkeit bei der Beschimp- 
fung von Religionsgesellschaften dahin: „Mit 
Recht ist [von Kahl] darauf hingewiesen wor- 
den, daß Fälle, in denen zgguter Glaube, 
ehrliche Absicht, heiliger Zorn, 
stürmischer Wahrheitsdrang, reli- 
giöse Erregung das Wort auf die Lippen 
gelegt haben", nicht getroffen werden dürften. Der 
Entwurf hat daher, wie im § 155, so auch hier 
das Wort „böswillig“ eingefügt. Danach soll das 
bloße Bewußtsein des beschimpfenden Charakters 
der Kundgebung nicht ausreichen, vielmehr er- 
fordert werden, daß die Handlung des 
Täters direkt auf die Beschimpfung 
der Religionsgesellschaft abzielt und 
daß der Täter in dieser Handlung seine 
Befriedigung suchen muß.“ Bei der 
Gotteslästerung führt die Begründung zur Recht- 
fertigung des neuen Vorschlags (S. 511) an: 
„Nach dem bisherigen Gesetz wird in subjektiver 
Beziehung auf seiten des Täters Vorsatz voraus- 
gesetzt. Es genügt also der auf die Kundgebung 
gerichtete Wille, verbunden mit dem Bewußtsein 
von der Eigenschaft der Außerung als einer be- 
schimpfenden. Daß der Täter gerade die Absicht 
gehabt habe, das, was Achtung und Verehrung 
fordert, verächtlich zu machen und herabzuziehen, 
wird nicht verlangt. Damit ist grundsätzlich auch 
der sog. eventuelle Vorsatz zugelassen.“ Das Er- 
fordernis der Böswilligkeit dagegen bedeute: „Der 
Endzweck des Täters muß darauf gerichtet sein, 
zu lästern. Der Täter muß in der Hand- 
lung seine Befriedigung, sein Ge- 
nügen suchen; er muß also die Handlung in 
frevelhafter Absicht vornehmen.“ Eine Definition 
des Begriffs der „Böswilligkeit“ stellt der Vor- 
entwurf nirgends auf; nur in der Begründung 
des Allgemeinen Teils findet sich (S. 212) die 
Stelle: „Eine Unterart der Absichtlichkeit ist die
	        
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